Heute vor 20 Jahren wurde die Arena auf Schalke eröffnet. Auch dort stehen die Schalker Fans in der Nordkurve. Doch von der verwegenen Freiheit im Parkstadion ist wenig geblieben.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #207. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Der letzte verbliebene Flutlichtmast des einst stolzen Parkstadions ist so etwas wie das Wahrzeichen des Berger Feldes im Norden von Gelsenkirchen geworden. Wie ein Wachturm ragt er weit über das Areal hinaus und erinnert die Besucher der benachbarten modernen Arena an die Zeit, als noch eine kalte, hässliche Betonschüssel die Heimspielstätte des FC Schalke 04 war. Meist sind es verklärte, romantische Erinnerungen an eine Ära, in der Spieltage gänzlich anders abliefen als heute. Mit Romantik hatte das Parkstadion zwar wenig zu tun, trotzdem scheint die Sehnsucht nach dieser Zeit so groß zu sein wie selten zuvor – Nostalgie hat Hochkonjunktur.
Deshalb haben auch viele der alten Parkstadionlieder den Weg zurück auf die moderne Fantribüne gefunden, die immer noch Nordkurve heißt, obwohl sie eigentlich keine Kurve ist, jedenfalls nicht so wie im Parkstadion, wo die Tartanbahn die Form der Tribüne bestimmte. Die Fans singen: „Wir sind Schalker, asoziale Schalker, wir schlafen unter Brücken oder in der Bahnhofsmission!“ Was früher von gegnerischen Anhängern hämisch über die blau-weißen Fans gesungen wurde, intonieren also heute zehntausende Schalker voller Stolz. Dabei ist das Publikum inzwischen ein ganz anderes. Solch gesittete Zuschauer, wie sie in der Arena beim Premiumprodukt Bundesliga anzutreffen sind, sah man im Parkstadion allenfalls vereinzelt auf der Haupttribüne. In der Nordkurve, allen voran im berüchtigten Block 5, wehte ein ganz anderer Wind.
Schon vor dem Umzug in das Parkstadion 1973, in den letzten Spieljahren in der Glückauf-Kampfbahn, fielen Zuschauer des Ruhrgebietsvereins immer öfter durch ihr rüdes Verhalten auf. Die anschließenden knapp zwei Jahrzehnte im Parkstadion waren durchweg geprägt von Gewaltausbrüchen. Ende der Siebziger bis Anfang der Neunziger war das Parkstadion kein wirklich sicherer Ort. Hier formierte sich die einst berüchtigtste Hooligangruppe der Bundesliga, die Gelsenszene. Hier gab es an einem einzigen Spieltag mehr Schlägereien als heute in einer ganzen Saison. Warum also wird ein solcher Ort offenbar vermisst?
Geliebt wurde das WM-Stadion von 1974 seinerzeit für seine Größe, für die leistungsstarke Flutlichtanlage und für die damals hochmoderne, riesige Anzeigetafel. (Auf deren schmaler Oberkante so manches Mal verwegene Fans einen Platz suchten, um das Spiel in luftiger Höhe zu verfolgen.) Ursprünglich war das Stadion sogar als Vorzeigeobjekt für eine ganze Region und für über 100 000 Menschen geplant worden. Eine komplette Überdachung war auch nach der Eröffnung noch jahrelang im Gespräch.
Das Stadion war als Symbol für eine neue ruhmreiche Ära der Schalker Knappen gedacht, es sollte der Stolz der Bergarbeiterregion sein und den Erfolg der Vorkriegsjahre zurückbringen. Es wurde – bis auf Ausnahmen wie den Gewinn des UEFA-Pokals 1997 – allenfalls ein Sinnbild für Erfolglosigkeit und Skandale. Jenen Gewinn des europäischen Titels für die heutige Nostalgiewelle verantwortlich zu machen, wäre daher zu kurz gedacht.
Als das Parkstadion gebaut wurde, hatte der Fußball wegen des Bundesligaskandals mit großem Zuschauerschwund und einem schlechten Image zu kämpfen. Im Ruhrgebiet kamen noch Strukturwandel und steigende Arbeitslosigkeit hinzu, die viele Probleme in die Stadien trugen. So wurden die Spieltage für viele Jugendliche zur besten Gelegenheit, den angestauten Frust abzubauen und sich selten gewordene Anerkennung zu verschaffen. Es herrschte eine Art Anarchie in den Stadien.
An den Bier- und Wurstständen galt das Gesetz des Stärkeren oder Lauteren. Wer dort im wahrsten Sinne des Wortes um sein Bier gekämpft hat, war nur wenige Jahre später verblüfft, wie geordnet sich Stadionbesucher anstellen können, um an Verpflegung zu kommen. Auch ansonsten hatte der Imbissstand im Parkstadion übrigens abenteuerlichen Charakter. Da schwamm schon mal ein Heftpflaster in der Erbsensuppe, die umso dünner ausfiel, je mehr Zuschauer kamen. Auch das gerne verarbeitete Gammelfleisch würde heute bundesweit für Schlagzeilen sorgen, war damals aber nicht mehr als eine gern erzählte Anekdote.
Selbst Alkoholkontrollen waren im Parkstadion Fehlanzeige. Auch an Kinder wurde wie selbstverständlich Bier oder Tee mit Rum verkauft. Wer bei den Einlasskontrollen mit Hochprozentigem erwischt wurde, hatte die Wahl: wegwerfen oder austrinken. Das wirkte sich oft fatal auf die minderjährigen Schnapsschmuggler aus, die sich natürlich vor den Augen der lauthals johlenden Freunde fürs Trinken entschieden. Was wiederum für Harndrang sorgte, der ein echtes Problem war. Denn während man heutzutage beim Toilettengang schon mal darauf angesprochen wird, ob man sich die Hände gewaschen hat, konnte man sich im Parkstadion gar nicht erst auf die Sanitäranlagen der Nordkurve trauen – es war dort schlicht und ergreifend zu gefährlich.
Ganz zu schweigen davon, dass die Keramiken ohnehin nur selten benutzbar waren, da sie ständig von irgendwelchen Vandalen demoliert wurden. Gepinkelt wurde also an Bäumen oder auch schon mal direkt im Block. Die wenigen weiblichen Stadionbesucher erleichterten sich oft auf den bepflanzten Hügeln hinter der Gegengerade. Überall im Stadion herrschte eine Art verwegener Freiheit, die man sich nahm und die akzeptiert war.
So wurde das Parkstadion innerhalb eines Jahrzehnts statt zur erhofften Pilgerstätte für erfolgsverwöhnte Fußballanhänger zur Heimat der Halbstarken und Abenteuerlustigen. Doch für Schalke waren diese Fans in den Jahren der Zweitklassigkeit ein wichtiger Rückhalt. Sie fanden auch dann den Weg in die trostlose und über 70 000 Zuschauer fassende Betonschüssel, wenn sich sonst kaum jemand dorthin verirrte.
Wenn Wind und Regen den Besuch zur Herausforderung werden ließen, sangen und schrien sich die Treuesten der Treuen in der Nordkurve immer noch die Kehle heiser. Was zwischen Oktober und April schon masochistische Züge hatte, denn Schutz vor der Witterung gab es nur auf der Haupttribüne. „Oskar mach die Tore auf“, schallte es bei Dauer- oder Schneeregen von den Stehrängen rüber zur Ehrentribüne, wo Präsident Günter „Oskar“ Siebert saß. Doch geöffnet haben sich die Tore zum überdachten Bereich so gut wie nie.
Man kann es den Tribünenbesuchern nicht verdenken, dass sie die Fans aus der Nordkurve lieber auf Abstand hielten. So gehörten Faustkämpfe bis Ende der Achtziger zum normalen Spieltagserlebnis. Wilde Jagden auf gegnerische Fans, Massenschlägereien auf dem Spielfeld und Blockstürme des Gästebereiches inklusive Raketenbeschuss machten das Parkstadion zu einem der gefürchtetsten Fußballorte. Die Spieltage nach den Jahreswenden waren geprägt von Feuerwerkskörpern, die in alle Richtungen geworfen oder abgeschossen wurden und mitten im Block explodierten. Jeder wusste, dass Hoodies im Januar eine schlechte Idee waren, denn Kanonenböller wurden nur knapp über die Köpfe hinweg nach unten geworfen – wenn sie in einer Kapuze landeten, hatte deren Träger ein echtes Problem.
Wie selbstverständlich wurden auch kleine Feuer in den Blöcken entfacht, zum Beispiel um erbeutete gegnerische Fanutensilien zu verbrennen. Wenn dann die hochgiftigen, brennenden Schals von den Lautsprechermasten tropften, war höchste Vorsicht geboten. Ein Vergleich mit dem heutzutage geordneten Abbrennen von Pyrotechnik erübrigt sich da.
Konnte es in der Nordkurve schon ungemütlich werden, so begab man sich als Auswärtsfan im Gästebereich erst recht in Gefahr, denn Schutz durch die Polizei gab es kaum. Hooligans und Mitläufer spielten mit der unzureichend ausgerüsteten und oft überforderten Staatsmacht Katz und Maus. Die Schirmmützen der Polizisten waren hochangesehene, aber nicht rare Beutestücke. In den berüchtigten Block 5 der Nordkurve trauten sich Ordner gar nicht und Polizisten nur in größeren Gruppen. Es kam sogar vor, dass Polizeiwagen hinter diesem anrüchigen Ort von der haltlosen Meute umgeworfen wurden.
Dafür war das Ganze aber sehr billig – trotz ohnehin moderater Eintrittspreise gab es Schülerkarten für nur 1,50 DM. Trotzdem lauerten viele jugendliche Anhänger darauf, noch günstiger ins Stadion zu kommen. Da schnappte sich jemand in einem unbeobachteten Moment eine ganze Ticketrolle aus einem Kassenhäuschen und verteilte die Karten, bevor die Polizei eingreifen konnte. Es gab zwar nummerierte Sitzplätze, aber ob auf den Bänken nun 20 oder 40 Fans hockten, konnte und wollte niemand kontrollieren. So gab es Spiele, zu denen das Parkstadion völlig überfüllt war. Rudi Assauer sagte mal, dass er für den legendären Pokalkrimi gegen Bayern München 1984 über 80 000 Karten drucken ließ. Hinzu kamen noch Zuschauer, die kopierte Tickets hatten oder einfach alle Kontrollen umgingen. So wurden vor einem UEFA-Cup-Spiel Fans beim Tunnelbau erwischt.
Fangesänge hießen zur Zeit des Parkstadions noch Schlachtrufe und waren in aller Regel martialisch. „Kommt doch mal rüber zum Ess Null Vier!“, schallte es von der Nord- zur Südkurve hinüber, was nichts anderes als die Aufforderung zu einer Schlägerei war. Da sich aber nie jemand traute, machten sich viele Nordkurvenanhänger selbst auf den Weg. Auf Höhe der Gegengerade kam es Spieltag für Spieltag zu Prügeleien, bis ein Metallzaun errichtet wurde, der wenigstens während der 90 Minuten für Ruhe sorgte. Dass sich unter den Hauern auch viel rechtsextremes Gedankengut fand, muss nicht extra erwähnt werden, denn das war damals leider in fast allen Stadien der Republik durchaus konsensfähig. Warum also sollten sich Fans fast sehnsüchtig an diese Zeiten erinnern?
Zum Beispiel wegen Catweazle. Einer der angesehensten Leader der Nordkurve verdankte seinen Spitznamen der Ähnlichkeit mit dem gleichnamigen Star einer Fernsehserie. Auf einem der Wellenbrecher an einem Lautsprechermast stehend, gab das spitzbärtige Unikum mit seiner Trommel der Kurve den Takt vor. Auf sein Kommando hin wurde rhythmisch geklatscht und angefeuert, was die Stimme hergab. Denn um die Mannschaft zu erreichen, musste die Schallwelle noch die Laufbahn und den großen Hintertorbereich überwinden. Daher war es selbstverständlich, dass man nach Spieltagen vollkommen heiser war. Heute erreicht man wegen der Architektur der Arena mit halber Stimmkraft die x‑fache Wirkung, früher besetzten viele Gruppierungen schon Stunden vor Spielbeginn ihre Stammplätze, um sich einzusingen.
Bei sich trugen sie blau-weiße Fanutensilien, die zu 90 Prozent in Handarbeit entstanden waren, etwa meterlange, von der Oma gestrickte Schals oder mit Nieten und großen Rückenaufnähern bestückte Kutten sowie riesige, an Bambusstöcken befestigte Fahnen aus Baumwollstoffen, die an Regentagen kaum noch zu schwenken waren. Das für solche Flaggen auch schon mal die aus der Gemeinde stibitzten Fronleichnambanner herhalten mussten, wusste die Näherin Gott sei Dank nicht.
Anfang der Neunziger entspannte sich die Lage zunehmend. Präsident Günter Eichberg vermochte eine sonderbare Aufbruchstimmung zu erzeugen und schaffte es durch gezielte, pfiffige Marketingmaßnahmen wieder, die Massen ins Parkstadion zu locken. Dabei wurde er nicht müde, zusammen mit Charly Neumann den Anhängern ins Gewissen zu reden. Dass sie ihn zum Aufstieg bis auf die Unterhose auszogen, verzieh Eichberg den Fans ebenso wie den Tritt eines Zuschauers in den Allerwertesten des Schiedsrichters. (Während des Spiels, wohlgemerkt.)
Ansonsten wurde es ruhiger. Plötzlich war Schalke wieder hip, auf der Tartanbahn sang Ruhrpottbarde Erwin Weiss, und das neue Maskottchen, der Maulwurf „Wühli“, tanzte zu den Liedern der Schalker Hausband The Florians oder des Schlagersängers Ibo, die auf einer Bühne vor der Nordkurve auftraten. Die Faninitiative arbeitete derweil unermüdlich gegen rechte Tendenzen, und als Schalke sich 1996 endlich wieder für einen europäischen Wettbewerb qualifizieren konnte, waren die rauen Zeiten fast Geschichte. Ein neues Wir-Gefühl ließ die Kurve „Ruhrpott, Ruhrpott“ skandieren, und statt Schwarzpulver fand bei strömendem Regen der schäumende Inhalt von Duschgelproben seinen Weg in des Vordermanns Haarpracht. Nebenan auf der Großbaustelle wuchs die Arena in die Höhe, während die einst so schwierige Kundschaft mittlerweile auf der Haupttribüne hockte und dort lauthals Stimmungshits von DJ Ötzi grölte.
Doch all das, selbst die letzten schönen Jahre im Parkstadion, kann die Sehnsucht nach der alten Schüssel und der ursprünglichen Nordkurve nicht wirklich erklären. Also was ist es? Es scheint an der Veränderung des Fußballs an sich zu liegen. Am inzwischen komplett durchkommerzialisierten Hochglanzprodukt Bundesliga. An übertriebenen Eintrittspreisen, der Zerstückelung der Spieltage, dem Videobeweis oder an der Übermacht der superreichen Großklubs. Es sind unzählige kleine Dinge, die den modernen Fußball für viele immer uninteressanter werden lassen, wodurch die Vergangenheit attraktiver wirkt. Ja, damals war wirklich manches besser. Doch es gab auch zahlreiche unschöne Auswüchse. Deswegen darf man Orte wie das Parkstadion durchaus vermissen, aber man sollte sie nicht verklären.