Das erneute Verkacken des Hamburger SV ist ein Drama. Und das nicht nur sportlich. Auch die Internet-Witzbolde stoßen an ihre Grenzen. Es sind einfach keine HSV-Gags mehr da.
Leere Blicke, lange Gesichter, Tränen der Enttäuschung: das 1:5 des Hamburger Sportvereins und die damit verpasste Relegation ist vor allem für eine Community ein Drama: die Internet-Witzbolde. Eine stabile, diverse Gemeinschaft aus Sportjournalisten, Comedians, Fußballfans und Social-Media-Usern, die sich vor einigen Jahren im Internet zusammengefunden hat, um Spott über dem strauchelnden HSV auszukübeln. Und die jetzt vor dem Nichts steht.
„Es ist ein absoluter Schock“, sagt etwa Rolf Kopter, der Vorsitzende der „Interessengemeinschaft HSV-Gags“. „Wir bei der IG sind fassungslos.“ Was Kopter und seine Freunde so schockiert: Nach Jahren des sportlichen Niedergangs des HSV, nach zahllosen Skandalen, Relegationsspielen, dem Abstieg und verpassten Wiederaufstiegen war wenige Stunden nach dem peinlichen 1:5 des HSV gegen Sandhausen klar: Es sind jetzt alle HSV-Witze gemacht worden. „Ich spüre nur noch Leere“, so Kopter.
Zu Recht, will man meinen, denn was sich in den Stunden nach dem HSV-Debakel online abspielte, war an Dramatik kaum zu überbieten. Einige Gags zündeten noch, vereinzelt sah man sogar die eine oder andere Social Card einschlägiger Humor-Seiten oder mal ein Meme. Doch dann geschah Eigenartiges. Nachdem die ersten soliden Gags reflexhaft verschossen waren, konnten die wenigsten Internet-Witzbolde noch einmal nachlegen. „Wir hatten einfach keine Munition mehr“, so Kopter „Die Lager waren leer. Wir haben uns humortechnisch angestellt wie die Hintermannschaft des HSV, wenn sie, äh, wenn, äh. Sehen Sie?“
Der HSV-Gag-Crash ist eine Zäsur, jedoch hatte sie sich angedeutet. Kritiker werfen den HSV-Spöttern schon seit Jahren eine gewisse Gag-Inflation vor, als es nun zum Zusammenbruch des Systems kam, konnte niemand mehr gegensteuern. Die Witzbold-Community, ansonsten ein verschworener Haufen, habe sich im Moment der Krise in zwei Lager geteilt, so Kopter. Einmal jene, die das Witzeln einstellten. Und dann jene, die Witze-Dumping betrieben. „Nach dem Tor von Diekmeier waren wir teilweise bei einer Gags-pro-Person-Ratio von 3,4. Jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß, dass wenn der Wert über zwei liegt, ein exponentielles Witze-Wachstum droht. Die Niveau-Kurve fällt dabei ins Bodenlose“, so Kopter. „Die reicht dann in den Nicht-Witz-Bereich. Dann ist ein Witz kein Witz mehr, sondern das Gegenteil.“ Man könne das mit der HSV-Offensive vergleichen, so Kopter, „wenn Aaron Hunt mal wieder, äh, wenn er, also, äh.“
Und so kommt die Saison 2019/20 zu einem überraschend unrühmlichen Ende. Denn die Internet-Witzbolde hatten eigentlich eine fantastische Spielzeit. „Wir hatten erst Klinsmann, der hat richtig frischen Wind reingebracht“, so Reiner Hohn von der „AG Unsere Fußballwitze“, einer Art Dachverband, der zwar Witzchen über alle Vereine macht, vom HSV aber natürlich extrem profitiert hat. „Dann die ganze Hopp-Chose. Dann kam Corona. Mensch, die ganzen tollen Mindestabstand-Gags. Und als es wieder losging, hat uns Schalke alle überrascht. Ganz ehrlich: Wir haben im Überfluss gelebt.“ Social Cards hätten im Laufe der Saison eine 200-prozentige Steigerung erfahren, diverse Medien hätten eigens Netzreaktionen-Rubriken ins Programm aufgenommen. „Alles schien möglich. Es war eine richtiggehende Goldgräberstimmung“, so Hohn.
Wie es nun weitergehen soll, weiß niemand, schließlich bricht der Community ein zentrales Standbein weg, die Folgen sind noch gar nicht abzusehen. „Ich bin keiner, der schnell in Panik gerät“, sagt Kopter und zieht sich dabei traurig die einrollbare Clownskrawatte hoch und runter. „Und ich hatte auch noch Hoffnung, dass sich der Markt wieder erholt. Aber unsere Statistiker haben errechnet, dass der letzte HSV-Witz tatsächlich schon gemacht worden ist. Gestern Abend auf Twitter, von einem User namens @martin_lol, um Punkt 21:54 Uhr. Seither befinden wir uns theoretisch im Minusbereich. Das ist die Stunde Null“, so Kopter.
„Die Lasoggas waren solide Schmunzler, die uns aus der Krise geführt haben“
Die Zahlen geben ihm recht. Zwar gab es, als Peter Knäbel seinen Rucksack verlor, ein ähnliches Horrorszenario, doch in der damals schwierigen Phase konnten sich die Internet-Witzbolde auf die konstant liefernde Mama Lasogga verlassen. „Das waren solide Schmunzler, die uns aus der Krise geführt haben. So ein Szenario sehe ich aktuell nicht. Soll ich jetzt über Tim Leibold Witze reißen? Das wäre ja, als würde der HSV, äh, als würde er, ach, scheiß drauf“, so Kopter.
Wie schlimm es um die HSV-Gags steht, zeigt auch ein Blick in führende Fußballhumor-Medien des Landes. So hat es etwa 11freunde.de bis dato noch nicht geschafft, die „HSV-Trainer Vorher / Nachher“-Bildergalerie zu updaten. Ein Mitarbeiter der Online-Redaktion, der nicht namentlich genannt werden wollte, behauptete, es läge daran, dass Dieter Hecking schließlich noch Trainer sei und damit die „BiGa“ (Zitat) faktisch falsch wäre. Sonderlich überzeugend klang Dinkelaker dabei aber nicht.
Und so geht mit der dritten Ehrenrunde des einst großen HSV nicht nur der Mythos vom großen Traditionsverein zu Ende, sondern auch eine Ära des Internethumors. Das ist für viele nicht einfach. „Es waren schöne Jahre. Die Papierkugel. Die Stadionuhr. Kühne. Die Lasoggas. Ein verlässlich durchsteckender Aufsichtsrat“, so Kopter. Er werde jetzt versuchen, ein paar Tage den Kopf frei zu bekommen, das ganze erst einmal sacken zu lassen. Und dann wolle er wieder angreifen, wenn auch nicht beim HSV. „Ich werde mich in Zukunft auf Schalke konzentrieren. Die ganze Fleisch-Nummer, die Gehaltsobergrenze, die generelle Richtung des Klubs. Ich sehe da unheimlich viel Potential.“