Am 20.05.2000 braucht Bayer Leverkusen nur noch einen einzigen Punkt in Unterhaching, um die erste Meisterschaft der Vereinsgeschichte einzutüten. Und um die Bayern endlich in die Schranken zu weisen. Formsache für eine Mannschaft, die seit Monaten nicht verloren hat. Oder? Protokoll einer denkwürdigen Meisterschaft.
Wir feiern heute die 2000er – das aufregendste Jahrzehnt der Fußballgeschichte! Warum es so aufregend war? Lest ihr in der Titelgeschichte aus 11FREUNDE #265.
Das Ende (I)
20.05.2000, Flughafen München
Irgendwann am frühen Abend des 20. Mai 2000 klingelt das Handy von Reiner Calmund. Uli Hoeneß ruft an. Hoeneß? Calmund sitzt, schwer wie immer und schwermütig wie nie, am Münchner Flughafen und wartet schweigend auf die Maschine, die ihn und die Leverkusener Trauergesellschaft zurück nach Düsseldorf bringen soll. Beziehungsweise geht es weniger um das Ziel, was wartet denn schon in der Heimat außer der nackten Enttäuschung und der schmerzenden Leere und Guildo Horn, den Calmund schon für die Meisterfeier am nächsten Tag gebucht hatte und dem er jetzt nicht mehr absagen kann? Es geht viel eher darum, endlich abzuhauen. Bloß weg von hier, egal wohin, weg von Unterhaching, weg von München, weg von den Bayern und ihrer verdammten Meisterfeier am Marienplatz, die in diesen Minuten, Überraschung, doch steigt. Wie jedes Jahr. Mia san Argh! Bloß raus aus dieser Fußballhölle. Und ausgerechnet jetzt ruft Hoeneß an. Der Mann, der in den vergangenen Wochen keine Gelegenheit ausgelassen hatte, gegen Leverkusen im Allgemeinen und Trainer Christoph Daum im Speziellen zu giften. Der Kerl, der gesagt hatte, Daum würde in 100 Jahren nicht Meister werden. Was will der jetzt? Calmund geht ran. „Ich wollte nur sagen“, sagt Hoeneß, „dass es mir leid tut.“ Auch das noch.
Die Saison
Sommer 1999
Knapp ein Jahr zuvor ist den Bayern nicht nach Feiern zu Mute. Im Mai war der Mannschaft erst von Manchester United das Herz aus der Brust gerissen worden und dann, im Juni, hatte die taumelnde Truppe auch noch das Pokalfinale gegen Werder vergeigt. Im Elfmeterschießen. Zwei Niederlagen, zweimal lag es an den Nerven. Ein Unding für all die Kinn-oben-Brust-raus-Typen im Kader. Mindestens. In einem hektischen Sommer hatten sich zudem die langjährigen Stützen Mario Basler und Thomas Helmer verabschiedet, andere Leistungsträger wie Stefan Effenberg und Lothar Matthäus sind schon seit Jahren keine Jungspunde mehr. Und nun? Nur ein Punkt aus den ersten zwei Bundesligaspielen, auf das glückliche 2:2 zu Hause gegen den HSV folgt ein verdientes 0:2 in Leverkusen. Die Mannschaft wirkt behäbig und müde und langsam im Kopf. „Der Fokus für 2000 lag bei uns damals auf der Champions League“, sagt Carsten Jancker. „Auch deswegen haben wir in der Saison ziemlich viele Punkte liegen gelassen.“ Bundesliga? Dröger Alltag? Zweitrangig. In Gedanken sind die Münchner in Barcelona statt in Bielefeld.
In Leverkusen könnte die Stimmung auch deswegen kaum besser sein. Im Gegensatz zu den Bayern verfügt Bayer 04 über eine bunte Mischung aus erfahrenen und jungen Spielern, mit Michael Ballack, Oliver Neuville und Bernd Schneider konnte Manager Calmund dem ohnehin schon talentierten Kader im Sommer auch noch drei kommende Nationalspieler hinzufügen. Zusammen mit Abwehrchef Jens Nowotny, seinem Nebenmann Robert Kovac, den brasilianischen Künstlern Emerson und Zé Roberto, Standardspezialist Stefan Beinlich, Dampflock Paolo Rink und Torjäger Ulf Kirsten wirkt diese Mannschaft fast furchteinflößend gut. Könnte es dieses Jahr, nach zwei zweiten und einem dritten Platz, tatsächlich etwas werden mit der ersten Meisterschaft der Klubgeschichte? „Christoph Daum“, sagt Stefan Beinlich, „hat uns vor der Saison gefragt: ‚Welche Mannschaft ist eurer Meinung nach denn eigentlich besser als wir? Wo verlieren wir Punkte?‘ Dann sagte irgendwer: ‚Vielleicht die Bayern.‘ Darauf Daum: ‚Ok, dann ziehen wir sechs Punkte ab. Sind immer noch 96. Damit können wir Meister werden.‘ Und so sind wir in die Saison gegangen.“
Herbst 1999
Doch gleich in den ersten Saisonwochen, genau genommen am 11. September 1999, erhält Leverkusens Saison einen kleinen Dämpfer. Bloß weiß das zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Auch nicht Danny Schwarz, der bei Aufsteiger SpVgg Unterhaching spielt. Am vierten Spieltag trifft er mit seiner Mannschaft auf den VfB Stuttgart, seinen Ex-Verein. Trainer Lorenz-Günther Köstner hatte ihn unter der Woche zur Seite genommen. „Danny, du kennst doch den Balakov. Den nimmst du in Manndeckung.” Schwarz, eigentlich Offensivmann, wird zum Zerstörer umfunktionert. „Das hat sensationell funktioniert – leider.” Unterhaching gewinnt 2:0. Schwarz nimmt es im Saisonverlauf mit den besten Zehnern der Liga auf, er erahnt ihre Bewegungen, er stellt Balakov und Icke Häßler kalt. Nur gegen Mehmet Scholl läuft er hinterher.
Daum selber liegt mit seiner 96-Punkte-Einschätzung nicht ganz richtig. Zwar verliert Leverkusen in der Hinrunde nur ein einziges Spiel und siegt sogar gegen die Bayern, bloß: Die Mannschaft gewinnt zu selten. Selbst wenn sie klar überlegen ist. Nach dem 1:1 gegen Hansa Rostock am 12. Spieltag, dem vierten Liga-Unentschieden in Folge, stellt der „Kicker“ ernüchtert fest: „Scheinbar will nur Emerson Meister werden.“ Bayern dagegen hat sich gefangen. Nach einem 1:0 in Ulm am 11. Spieltag übernimmt der Rekordmeister die Tabellenspitze von Leverkusen, zum ersten Mal überhaupt in der Saison. Beim 6:1 gegen den SC Freiburg in der Woche danach wird streckenweise gezaubert. Carsten Jancker trifft doppelt, wie viele seiner Mitspieler findet er langsam zurück zu alter Stärke. „Trotzdem war uns allen klar, dass Leverkusen dran bleiben würde.“
Frühling 2000
Und Leverkusen bleibt dran. Zwar verliert die Mannschaft das Rückspiel in München und Trainer Daum wird in Bezug auf Spitzenreiter Bayern und seinen Intimfeind immer dünnhäutiger („Sie sind genauso ahnungslos wie Uli Hoeneß“, blafft er kurz vor dem Spitzenspiel einen Reporter an), danach gewinnt Bayer aber elf von 14 Spielen, erzielt dabei 42 Tore und bleibt ungeschlagen. Dabei riskieren Sie viel. Oft bleiben nur Jens Nowotny und Robert Kovac in der eigenen Hälfte, alle anderen stürmen nach vorne. Daum lässt nach der Niederlage gegen die Bayern Alles-oder-nichts-Fußball spielen. Doch nicht nur das: Die Mannschaft spielt so mitreißend und spektakulär, dass ihr plötzlich bundesweit die Herzen zufliegen. „Wir haben eindeutig den schöneren Fußball gespielt und mehr Tore erzielt als die Bayern“, sagt Reiner Calmund. „Allerdings haben die Bayern mit ihrem überragenden Oliver Kahn weniger kassiert.“ Spätestens nach dem 9:1 in Ulm sind die Sympathien im Meisterschaftskampf eindeutig verteilt. Fans von gegnerischen Mannschaften singen: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus.“ Der überragende Regisseur Emerson, der immer mehr ins Rampenlicht drängende Ballack, der ackernde Kirsten, der etwas kauzige Christoph Daum, der seine Mannschaft zu Saisonbeginn über Scherben hatte laufen lassen: Viele würden ihnen den Titel gönnen. Nach dem rauschhaften Sieg in Ulm sagt Daum: „Wir haben eine reelle Chance auf den Titel.“
15.04.2000, Olympiastadion München
Am 15.04.2000, dem 30. Spieltag, wird aus einer reellen Chance für Bayer Leverkusen eine große. Im Spiel zwischen Bayern München und 1860 München läuft die 40. Minute, als 60-Spieler Roman Tyce den Ball eher aus Verlegenheit denn mit Plan in den Bayern-Strafraum knüppelt. Am Fünfmeterraum wartet Bayerns Jens Jeremies, er steht eigentlich ganz alleine da, ohne Gegner, ohne Probleme, und könnte den Ball klären. Gleichzeitig stürmt Oliver Kahn aus dem Tor, um die Sache selber zu regeln. Was Jeremies nicht sieht, als er den Ball in Richtung seines eigenen Tores köpft. Ganz sachte tropft er einmal auf, dann trudelt er langsam aber unaufhaltsam ins leere Tor. 2:1 für 1860. Dabei bleibt es. Bayern verliert auch das zweite Derby der Saison. „Und das ist schlimmer, als die Meisterschaft zu verspielen”, sagt Kommentator Fritz von Thurn und Taxis, der an diesem Nachmittag im Münchener Olympiastadion steht. Er rechnet nach: Bis zum Saisonfinale haben die Bayern aufgrund von Champions League und DFB-Pokal noch sieben Spiele zu bestreiten. Leverkusen nur drei plus die morgige Begegnung. Die unbesiegbaren Super-Bayern? Naja.