Am 20.05.2000 braucht Bayer Leverkusen nur noch einen einzigen Punkt in Unterhaching, um die erste Meisterschaft der Vereinsgeschichte einzutüten. Und um die Bayern endlich in die Schranken zu weisen. Formsache für eine Mannschaft, die seit Monaten nicht verloren hat. Oder? Protokoll einer denkwürdigen Meisterschaft.
20.05.2000 Uhr, 17:17 Uhr, Olympiastadion München
In München ist pünktlich Feierabend. Aber hier warten ohnehin schon seit einer Stunde alle nur noch auf den Abpfiff drüben, in Unterhaching. Sammy Kuffour presst sich ein Handy ans Ohr. Plötzlich hüpft er los, jubelnd, und fängt an, seine Mitspieler zu umarmen. Ist Schluss?
20.05.2000 Uhr, 17:17 Uhr, Sportpark Unterhaching
Herbert Fandel pfeift ab. Christoph Daum läuft schweigend über den Platz, Reiner Calmund läuft schweigend über den Platz, um sie herum brechen ihre Spieler zusammen, als hätte ihnen jemand den Stecker gezogen. Ein Punkt hätte gereicht.
20.05.2000 Uhr, 17:22 Uhr, Olympiastadion München
Uli Hoeneß am Premiere-Mikrofon. Reporter Henkel spricht ihn direkt auf Christoph Daum an. „Heute tut er mir leid. Denn ich habe gehört, dass sie ein Eigentor gemacht haben. Er tut mir heute wirklich leid. Da ist keine Schadenfreude dabei.“ Im Hintergrund schüttelt Carsten Jancker ungläubig den Kopf. Um ihn herum umarmen sich dutzende Männer, manche im Liegen, manche im Stehen. Dann schnappt Rolf Fuhrmann bei Jancker zu. „Zwei Tore für die Ewigkeit?“, fragt Fuhrmann. „Ist mir scheißegal“, brüllt Jancker ins Mikrofon.
20.05.2000 Uhr, 17:25 Uhr, Sportpark Unterhaching
Michael Ballack sitzt auf der Ersatzbank und weint. Carsten Ramelow versucht, ihn zu trösten, aber was soll er denn schon sagen? Marcel Daum, damals 13 Jahre alt und riesiger Leverkusen-Fan, schluckt seine Enttäuschung herunter und versucht seinen Vater etwas aufzumuntern. Aber irgendwie gelingt das nicht. Alles ungerecht. Dicke Tränen kullern die Wangen herunter. Ausgerechnet Hachings Trainer Köstner kommt auf den Jungen zu. Köstner und Daum leben nur neun Kilometer voneinander entfernt in der Nähe von Stuttgart. Marcel ist dort oft zu Besuch, er liebt das Essen von Köstners Frau Kathrin. „Marcel”, nimmt Köstner den Jungen zur Seite, „das kannst du nicht verstehen.” Wie auch soll ein 13-Jähriger verstehen, was sonst niemand begreifen kann?
Währenddessen stellt sich Stefan Beinlich der Presse. Und nimmt seinen Zimmerpartner in Schutz. „Er denkt vielleicht, das ist seine Schuld, was aber absoluter Schwachsinn ist. Wir haben das alle zusammen vergeigt.“ Christoph Daum wird von einem Aufnahmeleiter quer über den Platz geführt. Am anderen Ende wartet Fritz von Thurn und Taxis. Der muss am Studiopult trösten. Daum wirkt demütig, aber nicht hadernd. Und doch: Er ist den Tränen nahe.
Im Gästeblock bahnt sich Leverkusen-Fan Lukas Pfeifer seinen Weg nach unten zum Zaun. Er hat das Handtuch von Adam Matysek erspäht, das noch immer im Tor hängt. Vielleicht kann er sich zumindest eine persönliche Trophäe sichern, wenn er sich bei der Meisterschale schon mit der Stoffversion zufrieden geben muss? Er fragt einen Ordner, ob er ihm das Handtuch besorgen könne. Natürlich nicht. Nicht an diesem Tag.
20.05.2000 Uhr, 17:45 Uhr, Sportpark Unterhaching
In der Kabine von Leverkusen ist es still. Richtig still. Niemand redet, schweigend ziehen sich die Spieler um, schweigend wird geduscht.„Stimmung wie auf dem Zentralfriedhof von Chicago“, wird Christoph Daum es später nennen. „Bei uns war es still, und das für lange Zeit“, sagt Beinlich. Als alle geduscht haben, geht es mit dem Bus direkt zum Flughafen. Auch die Frauen der Spieler sind dabei, eigentlich sollte am ja Abend gefeiert werden. Reiner Calmund fährt gemeinsam mit seiner Frau in einem eigenen Wagen. Nach der kollektiven Enttäuschung und den vergeblichen Versuchen, sich gegenseitig aufzubauen, hat er zum ersten Mal an diesem Tag Zeit, nachzudenken. Doch da ist nichts. „Da war nur Leere.“
Auch Lukas Pfeifer macht sich mit seinem Cousin und seinem Patenonkel schnellstmöglich auf den Heimweg. Bloß weg. Auf der gesamten Rückfahrt reden sie kaum ein Wort. Irgendwann schalten sie auch das Radio aus, weil sie die halbstündlichen Nachrichten über die sensationelle Meisterschaft der Bayern nicht mehr ertragen können.
20.05.2000, 19:30 Uhr, Marienplatz München
Carsten Jancker betritt als erster Spieler den Rathausbalkon. Er hat sich in eine Bayern-Fahne gehüllt, als er oben zu sehen ist, jubeln die 20.000 Zuschauer unten. Kurz danach schnappt sich Stefan Effenberg das Mikrofon. Er ist schon ziemlich heiser. Und fängt jetzt an zu grölen: „Vizemeister, Vizemeister Daum, Vizemeister, Vizemeister Daum“.
20.05.2000, 22:00 Uhr, ZDF-Studio Mainz
Direkt nach Spielschluss ist Lorenz-Günther Köstner in einen Hubschrauber gesetzt worden. Das ZDF will den Trainer im Aktuellen Sportstudio haben. Von den Bayern hat eh keiner Zeit. Als Köstner in der Maske sitzt, kurz bevor die Sendung beginnt, bekommt er eine Nachricht. Seine Spieler seien auf dem Weg zur Meisterfeier. Köstner ahnt Böses.
20.05.2000 23:00 Uhr, BayArena Leverkusen
Nachdem die Maschine in Düsseldorf gelandet ist, macht sich Calmund direkt auf den Weg in die BayArena. Die Fans, die keine Karten für den Gästeblock hatten ergattern können, hatten das Spiel auf einer Großbild-Leinwand im Leverkusener Stadion verfolgt. Als Calmund dort ankommt, sind nur noch wenige Fans zugegen. Sie versuchen, den Frust des Nachmittags herunterzuspülen. „Da war Totentanz.“ Die unzähligen Kölsch, die seit dem Nachmittag die Kehlen hinuntergeflossen sind, haben ihre Wirkung bereits entfaltet: „Die meisten haben mich gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Da bin ich dann schnell nach Hause gefahren.“
20.05.2000 Uhr, Mitternacht, Gaststätte „Alte Gärtnerei“ in Taufkirchen
Eigentlich war das Abendessen in der „Alten Gärtnerei“ als Abschiedsfete für Markus Babbel geplant gewesen. Aber was soll man machen? Aus dem gemütlichen Essen wird eine Meisterfeier. Sogar eine richtig gute, sagt Jancker. Das Lokal liegt nur sieben Minuten vom Ort des Wunders, vom Stadion der SpVgg Unterhaching, entfernt. Gut, dass Hasan Salihamidzic auf die Idee kommt, seinen ehemaligen Hamburger Weggefährten André Breitenreiter anzurufen. Dass die Hachinger, die Meistermacher, auf der Meisterparty landen und dort auch noch mit Applaus von den Bayern-Spielern empfangen werden, wird von den Medien zu einem kleinen Skandal hochstilisiert. Köstner muss sich im ZDF-Sportstudio erklären. Es wird ein Einspieler eines entrüsteten Rudi Völlers gezeigt. Köstner beschwichtigt, sein Team habe nur fair die Saison zu Ende bringen wollen. „Wir haben gegen Leverkusen nicht auf die Bremse getreten, um die Meisterschaft zu beeinflussen. Im Gegenteil: Wir haben aus eigener Kraft gewonnen!”, sagt Danny Schwarz. Nicht einmal das im Vorfeld versprochene Bier hätte es gebraucht. „Schmeckt mir bis heute nicht”, sagt Schwarz, der Flankengeber. Er steht in dieser Nacht mit einer Apfelschorle in der Hand im Hof der Gärtnerei und staunt: Nicht nur eine Eisskulptur haben die Bayern heran gekarrt, auch Boris Becker ist da! Ottmar Hitzfeld lässt sich von den Medizinern fit spritzen, um beim Tanzen keinen Ärger mit dem eigenen Rücken zu riskieren, Jens Jeremies wiederum lässt sich von Edelfan Becker die langen Haare abrasieren. Später zieht die Meute weiter in die Disko, selbst Uli Hoeneß, damals immerhin schon fast 50 Jahre alt, haut erst um 04:00 Uhr nachts ab. Er ist einer der ersten, die gehen. Wie gesagt: eine gute Party.
Das Ende (II)
21.05.2000, Schloss Morsbroich, Leverkusen
Spaß macht es niemandem, aber da müssen sie jetzt gemeinsam durch. Knapp 5000 tapfere Bayer-Fans sind gekommen, vielleicht weil sie nicht für sich alleine trauern wollen, vielleicht, weil sie wirklich und trotzdem stolz sind auf die vielleicht beste Bayer-Elf aller Zeiten. Stefan Beinlich wird verabschiedet, Michael Ballack wird getröstet, Emerson ist schon auf dem Weg nach Rom. Gestern hatte er sich in seiner Wut über die verpasste Chance mit den Worten verabschiedet, dass Bayer Leverkusen „nie, nie, nie“ etwas gewinnen werde. Nicht nur deswegen heißt es in der Öffentlichkeit jetzt: Aus Leverkusen ist Vizekusen geworden. Puh. Natürlich regnet es. Schon der Termin mit Oberbürgermeister Paul Hebbel am Vormittag im Spiegelsaal von Schloss Morsbroich war übel gewesen. Hebbel hielt seine Laudatio, sagte, die Mannschaft habe „Fußballkunst wie fast keine andere zelebriert“, doch alles was blieb, war das Wort „fast“.
Und nun singt Guildo Horn in giftgrünem Anzug seine Partykracher für ein paar Deprimierte in einem fast leeren Fußballstadion. Parallel feiert der verhasste Nachbar aus Köln den Aufstieg. Mit echtem Spaß. Es ist grotesk. Während die meisten Fans die Trauerfeier langsam verlassen, können Beinlich und die anderen Profis jetzt nicht flüchten. Horn singt ja für sie. Sie sitzen da, lassen es über sich ergehen und hadern. Die meisten werden dem Titel nie wieder so nah kommen wie gestern, auch an Beinlich wird die Geschichte lange nagen. Erst 2007, als er Unterhaching mit Hansa Rostock am letzten Spieltag besiegt und im Karriereherbst noch mal in die Bundesliga aufsteigt, kann er seinen Frieden mit dem Örtchen machen. Und trotzdem. Ganz aus den Köpfen verschwindet der 20.05.2000 nie. Bis heute. „Manchmal reicht ein bestimmter Song, und die Gefühle kommen hoch. In dem Sommer sangen unsere Fans ein Lied rauf und runter: ‚Und dann die Hände zum Himmel.‘ Wenn ich davon einen Takt aufschnappe, fühle ich mich zurückversetzt in diese Wochen und an diesen Nachmittag in Unterhaching. Damals hätte uns ein Punkt gereicht, die Schale war schon im Stadion. Es war für uns alle die große Chance, diese großartigen Jahre zu krönen. Wir haben es leider nicht geschafft.“