Die Curva Nord von Atalanta Bergamo engagierte sich sozial, sammelte Gelder für Obdachlose und baute Schulen in Afrika. Gleichzeitig kämpfte sie jahrzehntelang mit der Justiz. Jetzt hat sie sich aufgelöst. Über eine besondere Ultraszene und ihren Capo.
Ihrem sozialen Engagement stehen fortlaufend Ausschreitungen, Provokationen und Gerichtsprozesse gegenüber. Beim „Festa della Dea“ 2013 hatten die Ultras einen amerikanischen Weltkriegspanzer organisiert, mit dem sie über zwei Autos in den Farben der verfeindeten Vereine Brescia Calcio und AS Roma rollten. 2017 randalierten sie auf einer Auswärtsfahrt in Liverpool, was zehn Anzeigen nach sich zog, davon acht gegen Fans von Eintracht Frankfurt, die eine Fanfreundschaft zur Curva Nord pflegen.
So klar die Strukturen innerhalb der Gruppierungen sind, so formlos ist die Logik des Ultra-Daseins, so strikt den Regeln und dem Kodex im Inneren des Kreises zu gehorchen ist, so anarchisch ist das Auftreten in der Öffentlichkeit. „Jemand, der kein Ultra ist, wird es nie verstehen“, hat Galimberti vor ein paar Jahren gesagt.
Strukturiert und formlos. Gehorsam und anarchisch. Selbstlos und kriminell. Das ist, das war der Spannungszustand der Curva Nord.
Zu viele Ultra-Gruppierungen, gerade im Norden Italiens, seien mittlerweile von kriminellen Gangs übernommen worden, findet ihr Capo Galimberti. Hier in Bergamo werde das nicht geschehen. „Selbst wenn wir schlechte Entscheidungen treffen, sollen unsere Mütter noch stolz auf uns sein“, sagt er in James Montagues Buch 1312 – Among the Ultras. Für Bergamos Ultraszene ist die Gewalt gleichermaßen ein Antrieb wie die Einfühlsamkeit. Irgendeine soziale Idee drängt sich immer wieder zwischen die Fäuste.
Ohne Gewähr: Aber Claudio Galimberti hat in seinem Leben mit Sicherheit ein paar Nasen gebrochen. Er hat sogar wirklich mal einen Schweinekopf auf einen Polizisten geworfen. Er beteuert aber auch, nie etwas mit Drogen, organisierter Kriminalität oder Politik zu tun gehabt zu haben. Es sei immer nur um Atalanta gegangen. Alles, was er tat, sollte Atalanta größer, stärker und schöner machen. „Und damit bin ich noch nicht fertig.“
In der schlimmsten Phase der Pandemie, als Bergamo sich zum Corona-Epizentrum in Europa entwickelt hatte, hat Galimberti einen Brief geschrieben, adressiert an Atalantas Präsidenten Antonio Percassi. Sein Herz weine, wenn er sehe, wie das Militär die Leichen der Corona-Pandemie aus der Stadt bringe und zeitgleich darüber diskutiert werde, wann der Spielbetrieb in der Serie A wieder aufgenommen werde. Es war ein Flehen, die Saison zu beenden. Es war als würde er seine Curva Nord im Kampf gegen Brescias Ultras bitten, aufzuhören.
Kaum jemand in dieser Stadt liebt den Verein und die Provinz so sehr wie Il Bocia, der Junge aus Bergamo. Aber zum ersten Mal in seinem Leben hatte er erkannt, dass es etwas Größeres als Atalanta gibt.
Gut anderthalb Jahre später hat die Curva Nord um ihren Capo den Spielbetrieb selbst eingestellt. Die Ultra-Gruppierung existiert nicht mehr. Galimberti ist es verwehrt geblieben, sich von seinem Lebensauftrag zu verabschieden. Über Gründe der Auflösung ist öffentlich nichts bekannt. Die Curva Nord hat bloß ein Statement abgesetzt, indem sie etwas kryptisch davon spricht, alles sei heute falsch und heuchlerisch, Werte und Gedanken würden auf den Kopf gestellt. Und jahrzehntelange Repressionen durch die Polizei hätten zum Ziel gehabt, die Welt der Ultras eliminieren zu wollen.
Am Ende der Stellungnahme heißt es noch, die größte Niederlage sei es, Claudio Galimberti nicht zurück ins Stadion gebracht zu haben. Ihn, den bergamaskischen Gärtner.