Am vergangenen Wochenende machte Mark Noble sein letztes Spiel für West Ham United, nun beendet er seine Karriere. Über einen Typen, den der moderne Fußball eigentlich nicht mehr vorgesehen hatte.
Nach dem letzten Einsatz seiner Karriere hatte Mark Noble noch etwas zu tun. Während seine Teamkollegen die Katakomben des Falmer Stadiums, der Spielstätte von Gegner Brighton and Hove Albion, zum Großteil bereits verlassen hatten, schnappte sich Noble einen Besen und beseitigte damit das Chaos, das seine Mannschaft hinterlassen hatte. Wenige Minuten zuvor war er nach seiner Einwechslung in der 81. Spielminute im Schatten des dramatischen Meister- und Abstiegskampfs in der Premier League zu seinem letzten Einsatz für den Klub gekommen, für den er seit seiner Jugend aktiv ist und wo er zur lebenden Vereinslegende wurde. Sein Trainer David Moyes sagte hinterher über seinen Kapitän, dass die Fußballwelt nun „ein echtes Vorbild für die Jugend“ verliere. Was er damit meint, wird bei einem Blick auf Mark Nobles Karriere deutlich.
Es war im Jahr 2000, als Mark Noble in die Jugend von West Ham United wechselte. Zur Einordnung: Der HSV machte in diesem Sommer als Tabellendritter den Einzug in die Champions League klar, Bon Jovis „It’s my life“ stürmte als Neuerscheinung an die Spitze der Charts und Stefan Raab vertrat Deutschland mit „Wadde hadde dudde da?“ beim ESC. Noble durchlief ab der U17 sämtliche Jugendmannschaften der „Hammers“. Bis auf zwei Leihen zu Hull City und Ipswich Town von 2006 bis 2007 spielte er während seiner gesamten Laufbahn ausschließlich für die Ost-Londoner.
Seit der Saison 2008/09 gehörte er dort zum Stammpersonal, 2015 ernannte ihn der damalige Trainer Slaven Bilíc zum Kapitän. Insgesamt kommt der zentrale Mittelfeldspieler auf 568 Einsätze für West Ham, was ihn unter die Top-Fünf der Rekordspieler des Vereins brachte – und ihm selbst den Spitznamen „Mr. West Ham“. Der heute 35-Jährige erlebte die Höhen und Tiefen der letzten gut 20 Jahre mit, stand mit dem Verein zwei Abstiege durch, feierte jeweils den direkten Wiederaufstieg und zog mit den Hammers in dieser Saison erstmals seit 1975 ins Halbfinale der Europa League ein. Mit insgesamt zwölf Trainern arbeitete Noble während seiner Zeit bei West Ham United zusammen, vom Training ausgeschlossen oder gar suspendiert wurde er von keinem von ihnen. Stattdessen schwärmen alle von Mark Noble. Vor allem vom Menschen Mark Noble. Womit wir wieder beim Besen wären.
Das Fegen der Kabine nach Auswärtsspielen nämlich sei laut eigener Aussage von Noble eine selbstverständliche Geste des Respekts – und ebenso die Gelegenheit den jungen Spielern der eigenen Mannschaft diese Werte zu vermitteln. „Wenn sie sehen, dass ihr Kapitän sich hinstellt und die Kabine fegt, kommen sie ins Nachdenken, ob sie das nicht selbst tun sollen“, so Noble kürzlich in einem Interview mit dem ehemaligen englischen Nationalspieler Rio Ferdinand. Nachahmer habe er dabei bereits gefunden: Wenn Noble bei einem Spiel passen muss, übernehmen Declan Rice und Ben Johnson den „Besendienst“.
Seinen Ursprung nahm das Ritual vor einigen Jahren bei einem Auswärtsspiel bei Sheffield United. Noble hatte etwas in der Kabine vergessen, weshalb er zurück musste und das Chaos in der Kabine bemerkte, das seine Mannschaft hinterlassen hatte: „Von dort an wusste ich, dass ich so etwas nicht mehr erleben möchte. Die Mitarbeiter haben bei einem Spiel genug zu tun. Sie bereiten unsere Kabine vorher perfekt vor, da gebietet es der Anstand, dass wir sie danach sauber hinterlassen“, so Noble weiter.
_
Es sind Geschichten wie diese, die Mark Noble bei den Fans ein hohes Standing verleihen. Zweimal wählten sie ihn zu ihrem West-Ham-Spieler der Saison, nicht selten erhielt er auch Applaus bei Auswärtsspielen. Was die eigenen Anhänger ihm zudem bis heute zugute halten: Als der als hochtalentiert geltende Hammers-Jugendspieler Gray Diangana 2020 zum Unmut der Fans verkauft wurde, ohne eine echte Bewährungschance bei den Profis erhalten zu haben, sprang Noble den Anhängern zur Seite und positionierte sich in einem Statement auf Twitter gegen die Entscheidung des Vereins. Was bei allen anderen Spielern wohl ein ernstes Gespräch mit den Verantwortlichen samt Geldstrafe bedeutet hätte, blieb bei Noble folgenlos – ein Zeichen seines Standings im Verein.
Bei seinem letzten Heimspiel vor knapp zwei Wochen war das London Stadium, die Spielstätte des Vereins, mit 60.000 Fans wie so häufig ausverkauft, die ikonischen West-Ham-Seifenblasen flogen durch den Innenraum – und Noble wandte sich ein letztes Mal als Spieler in einer fünfminütigen Rede an die Fans. Er bedankte sich mit Tränen in den Augen und gebrochener Stimme für die Unterstützung während seiner Karriere und die Fans feierten ihn mit „Oh, Mark Noble“- Sprechchören. Seine Rede beschloss er dann mit einem Satz, den die Fans sogar noch ein Tick lauter bejubelten: „Ich habe hier meinen Traum gelebt. Und jeder einzelne von euch ist ein Teil meiner Familie geworden.“
Aber nicht nur die Fans, sondern auch seine Mitspieler gerieten regelmäßig ins Schwärmen, wenn sie auf ihren Teamkollegen angesprochen wurden. So bezeichnete Declan Rice Noble zuletzt als „zweiten Vater“. Sein ehemaliger Mitspieler und Jugendfreund Darren Behcet fand ebenfalls nur warme Worte und nannte Noble „einen echten Gentleman und als Person außergewöhnlich im modernen Fußball.“ Und teilte in einem Interview eine Geschichte, die er als Paradebeispiel für den Charakter Nobles sieht: Als er vor einigen Jahren plötzlich dringend eine neue Wohnung für sich und seine Familie suchen musste, habe ihm Noble sofort seine eigene überlassen, obwohl er diese selbst erst wenige Wochen zuvor erworben hatte.
Nach Heimspielen am Wochenende findet man Noble nicht selten in einer örtlichen Einrichtung für Obdachlose, wo er Essen verteilt und Spenden organisiert. So sammelte er 2018 einen sechststelligen Betrag bei seinen Teamkollegen, um wärmeisolierte Schlafsäcke für die Einrichtung zu besorgen oder spendierte dort während den Anfängen der Corona-Pandemie unzählige Mahlzeiten aus eigener Tasche. Öffentlich kommuniziert Noble all diese Dinge allerdings selten bis nie. Ein Zitat, dass er einst auf sein Fußballspiel bezog, ist deshalb auch prädestiniert, um sein Engagement außerhalb des Platzes zu beschreiben: „Ich packe Dinge lieber an, als ständig im Mittelpunkt zu stehen und darüber zu reden.“
Vor seinem letzten Heimspiel bedankte sich Noble zudem bei allen Journalisten, die zur Pressekonferenz im Vorfeld gekommen waren. Sie alle fanden einen signierten Zettel auf ihrem Stuhl, worauf eine persönliche Botschaft zu lesen war. Darin bedankte sich Noble für die Berichterstattung und Zusammenarbeit im Laufe seiner Karriere und schrieb, dass er hoffe, dass sie ihn als aufrichtig, ehrlich und aufgeschlossen erlebt hätten.
Es sind Attribute, die gut eine Woche später in ähnlicher Auflistung in einem weiteren Loblied auf Mark Noble Platz fanden. Es war Graham Potter, der davon sprach, wie viel Noble für den Fußball geleistet habe den West-Ham-Kapitän einen „vorbildlichen Repräsentanten des Sports“ nannte. Dabei ist erwähnenswert: Potter ist Manager von Brighton and Hove Albion und hat mit West Ham eigentlich gar nichts am Hut. Dennoch bekam Noble nach dem Spiel auch vom letzten gegnerischen Verein, gegen den er in seiner Karriere auflief eine persönliche Verabschiedung – bevor er dann den letzten Besendienst seiner Karriere erledigte.
_