Kaum zu glauben: England gewinnt im Elfmeterschießen! Es ist das Werk eines Mannes in Weste, der damit ein 22 Jahre altes persönliches Trauma besiegt.
„Es wird Englands viertes Elfmeterschießen bei einer WM. Niemand muss (uns) daran erinnern, was bei den ersten dreien passiert ist“, sagte der Kommentator der BBC. Kolumbien begann und ging in Führung. Harry Kane und Marcus Rashford trafen trocken links unten. Beide Strafstöße waren unhaltbar. Beide Schützen ließen sich einen Moment Zeit zum Einatmen, nachdem der Ball freigegeben war. Das musste eingeübt sein, das war eingeübt.
Doch der Dritte, Liverpools Jordan Henderson, schob den Ball nach rechts, auch dieser Schuss nicht mal schlecht – doch Kolumbiens Torwart hielt. England verschoss und alles sah danach aus, dass sich das Drama wiederholte. All das Training, all die Psychotests schienen vergebens. Genau in diesem Moment aber blieb Southgate ungerührt stehen. Er haderte nicht, er bewegte nicht mal den Kopf. Es schien, als hätte der Trotz seine Gesichtszüge eingemeißelt. Als wüsste Southgate, dass er beim Schicksal noch einen gut hatte.
Und tatsächlich: Zwei Kolumbianer scheiterten, an der Torlatte und an Jordan Pickford. So kam es, dass Englands letzter Schütze Eric Dier mit nur einem Schuss die Historie drehen konnte. „This is the moment. This could be the moment for England“, zitterte der BBC Radio5-Kommentator ins Mikro. Dier wackelte, die Schwere der Verantwortung drückte merklich auf den Schultern. Er schoss nach links, nicht fest, nicht entschlossen und in die Richtung des Keepers. Doch der Ball flutschte durch, er flutschte ins Netz.
England siegte nach Elfmeterschießen. Haltet die Druckerpressen an! Der Kommentator schrie: „And Dier does it – England win a World Cup penalty shootout for the first time ever – maybe time’s are changing. This team is changing things.“
Man schaue sich dazu nur dieses Video, womöglich das beste Fußball-Video dieses Jahres, an und eine der letzten Einstellungen. Wie Southgate die Fäuste ballt und schreit. So wie es nur jemand tun kann, der nicht nur schreit, sondern etwas raus schreit.
Die Engländer haben die bewundernswerte Fähigkeit, eine Sache wie den Fußball bis ins kleinste Detail aufzusaugen und sich gleichzeitig über die Sinnlosigkeit ihres eigenen Tuns lustig zu machen. Diese Selbstironie nimmt dieser Geschichte oft das klebrige Pathos und machte nicht nur in England eine oft spröde WM zu einem großen Spaß.
Ich feierte den Typen in Middlesbrough, der über Diers Tor besonders glücklich war: siehe hier. Ich liebte die Memes zu „It’s coming home“, mit denen die Engländer ja nicht wirklich in purer Überheblichkeit vom Titelgewinn schwadronierten, sondern vor allem die Stimmung im Land karikierten. Jeder in England sprach von dieser Mannschaft und von diesem Trainer, jeder sang den Hit der „Lightning Seeds“, warum also nicht Leonardo di Caprio oder Wladimir Putin??! (Wahrscheinlich legte auch ich deswegen beim Liveticker zum Halbfinale jegliche Überparteilichkeit ab.)
Und ich besuchte während der WM ein Konzert von Liam Gallagher in London und sah, wie die Engländer danach in Trauben hüpften und sangen: „Southgate you’re the one – you still turn me on – Football’s coming home again.“ Der Trainer hatte sich einen eigenen Song wahrlich verdient. Man kann darüber streiten, ob es dann ausgerechnet ein Song von Atomic Kitten sein musste. Doch vielleicht steht der Originaltitel dann am Ende doch für England 2018 – und für Gareth Southgate. Er hieß: „Whole again“. Alles war wieder ganz.