Kai Michalke war vor 20 Jahren das, was Leon Goretzka heute für den VfL Bochum ist: Ein Toptalent, dem man alles zutraut. Doch während für Goretzka tatsächlich noch alles möglich ist, war für Michalke eine beachtliche Bundesligakarriere mit einigen Ausflügen nach Europa das höchste der Gefühle. Wir sprachen mit dem heutigen Spielerberater über die Last, ein Goldjunge zu sein.
Kai Michalke, wie wurden Sie zum Riesentalent?
In meinem letzten A‑Jugendjahr durfte ich bei den Profis mittrainieren und habe das Glück gehabt, unter Jürgen Gelsdorf relativ schnell zu Einsätzen zu kommen. Damals war es eine Seltenheit, so jung bei den Profis zu landen. Heute ist es normal.
War Ihre Karriere ein Versprechen, das nicht ganz eingelöst worden ist?
Es war in der Tat so, dass ein großer Druck auf mir gelastet hat, weil ich gar nicht mehr objektiv bewertet wurde. Ich habe außergewöhnliche Spiele gemacht, aber diese Leistung konnte ich nicht permanent abrufen. Früher war ich mehr auf mich allein gestellt als die jungen Spieler heute. Das sieht man ja schon an den Trainerstäben: Damals gab es einen Co-Trainer, heute ist der Trainerstab teilweise größer als die Mannschaft.
Warum sind Sie nicht der Star geworden, zu dem Sie in jungen Jahren gemacht worden sind?
Ich habe meine Karriere ganz gut aufgearbeitet. Es hat mir nie am Ehrgeiz oder Fleiß gemangelt. Ich war nicht schlampig. Aber mir hat eines gefehlt: die Konstanz. Ich habe überall sehr, sehr starke Momente gehabt und teilweise herausragende Leistungen gebracht. Aber meine Karriere verlief zu wellenförmig. Daran erkennt man die Klasse der absoluten Topspieler. Die haben auch schwache Phasen. Aber selbst dann spielen sie noch über dem Schnitt.
Wie erklären Sie sich diese fehlende Konstanz?
Wenn ich mich nicht wohlgefühlt habe und wenn Widerstände auftraten, habe ich noch nicht mal durchschnittlich gespielt. Da habe ich einfach nicht funktioniert. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, vielleicht zu viele.
Waren Sie ein sehr sensibler Spieler?
Ich hatte es immer gerne, wenn es harmonisch war. Und ja, ich bin vielleicht mit dem Umgang miteinander nicht so klargekommen, wie es im harten Fußballgeschäft vonnöten ist. Dabei wäre das Talent da gewesen, um A‑Nationalspieler zu werden. Ich habe von der U15 bis zur U21 alle Auswahlmannschaften durchlaufen, zudem die A2-Nationalmannschaft. Aber dieses verfluchte A‑Länderspiel hat nicht sollen sein. Vielleicht wäre es auch besser gewesen, noch nicht bei der U15 ins Blickfeld zu rücken.
Wie meinen Sie das?
Es kann hilfreich sein, erst später in den Fokus der Nationalmannschaft zu rücken, weil das auch einen gewissen Schutz bietet. Bei mir hingegen war es schon relativ früh so, dass alle an mir gezerrt haben: Profis, A‑Jugend, Nationalmannschaft, Westfalenauswahl, Kreisauswahl und sogar die Schulauswahl. Heute geht es mehr Hand in Hand.
Hat es das neue Bochumer Toptalent Leon Goretzka heute einfacher als Sie damals?
Einfacher will ich nicht sagen. Ich glaube sogar, dass es schwieriger geworden ist, sich von der Masse abzusetzen. Ich habe als A‑Jugendlicher vier Mal pro Woche trainiert. Heute reicht das nicht mehr. Dementsprechend schwer ist das Gesamtpaket zu bewältigen.
Wer hat Ihnen geholfen, Ihr „Gesamtpaket“ zu bewältigen?
Gemeinsam mit meinen Eltern war Ata Lameck mein größter Förderer. Er hat mich in der A‑Jugend des VfL Bochum trainiert. Aber schon bevor er mein Trainer wurde, hat er mein Talent erkannt und war ständig dabei: bei den U15-Länderspielen und bei den U16-Länderspielen. Zu ihm habe ich eine sehr, sehr enge Verbindung.
Wie kam diese Verbindung zustande?
Er ist ein positiv Verrückter. Der Fußball und gerade der VfL Bochum sind seine Leidenschaft. Wenn Ata etwas in jemandem erkannt hat, hat er sich extrem um denjenigen gekümmert. Als junger Fußballer braucht man diese Unterstützung. Es gibt mittlerweile so viele gute Talente in Deutschland. Aber ohne das Quäntchen Glück und die Unterstützung des Umfeldes haben sie es ganz schwer.
Inwiefern hat sich der Bochumer Rekord-Bundesligaspieler denn um Sie bemüht?
Er hat mich immer wieder daran erinnert, was für Möglichkeiten ich habe. Und innerhalb des Vereins war er jemand, der sagte: „Passt früh genug auf. Den wollen alle haben.“ Dabei kam ein Wechsel für mich gar nicht infrage. Mit 15, 16, 17 Jahren hätte ich überall hin wechseln können. Aber wenn man in der Stadt, in der man geboren ist, einen Bundesligaverein hat, warum soll man dann wechseln?
War Lameck Ihr erster Spielerberater, ohne dass Sie beide es wussten?
Ata hat mir und meiner Familie zumindest viele Ratschläge gegeben. Er hat natürlich vieles durch die blau-weiße Brille gesehen, das ist auch sein gutes Recht. Meinen ersten Vertrag in Bochum habe ich aber mit meinem Vater gemacht. Erst als ich Profi geworden bin, sind die ersten Spielerberater auf mich zugekommen.
Heute sind Sie selbst Spielerberater.
Ich würde manchmal auch gerne länger warten, ehe ich Spieler anspreche. Ich erkenne nicht so den Sinn, einen 15-Jährigen zu beraten. Aber wenn ich zu lange warte, sind schon 10, 20, 30 andere Berater hinter ihm her. Das macht es schwieriger. Auf der anderen Seite ist diese Konkurrenz aber auch gut: Ich will den Spieler überzeugen und sein Vertrauen gewinnen. Es ist wichtig, dass die Jungs und ihre Eltern merken, dass man für sie da ist und dass man es gerne macht.
Haben Sie sich jemals schlecht beraten gefühlt?
Jein. Ich war ja selbst immer dabei und hatte meinen eigenen Kopf. Ich habe mich nie drängen lassen und alle Entscheidungen alleine getroffen. Manchmal war ich aber vielleicht zu stur und zu voreilig. Dabei gibt es genug Beispiele, dass man eine Karriere Stück für Stück planen kann.
War es insofern ein Planungsfehler, den VfL 1999 zu verlassen?
Nein. Irgendwann wachsen die Anforderungen an sich selbst. Ich wollte sehen, wie weit ich kommen kann. Und durch den Abstieg war der Drang sehr groß, weiter in der Bundesliga zu spielen. Die Fans nahmen mir das in der Anfangszeit übel. Aber ich glaube, dass auch viele Verständnis für diese Entscheidung hatten. Es war ja auch legitim: Ich war Anfang 20, A2-Nationalspieler und habe eine sportliche Herausforderung gesucht.
Würden Sie sagen, dass Hertha BSC Berlin damals eine Nummer zu groß für Sie war?
Warum?
Weil Sie sich nicht so recht durchgesetzt haben.
Im ersten Jahr habe ich 90 Prozent der Champions-League-Spiele für Hertha gemacht. Natürlich haben wir hin und wieder gewechselt. Dadurch mag es sein, dass ich weniger Bundesligapartien gemacht habe. Aber trotzdem bin ich auf über 30 Pflichtspiele gekommen. Und der Manager Dieter Hoeneß hat mich als seinen besten Einkauf bezeichnet.
Warum lief es im zweiten Jahr nicht mehr so positiv?
Es war so, dass Spieler für zig Millionen geholt worden sind. Hertha ist ja nicht umsonst so stark verschuldet. Zudem wurde das System von fünf auf vier Mittelfeldspieler geändert. Und in Dariusz Wosz, Stefan Beinlich, Sebastian Deisler und Pál Dárdai hatten wir vier aktuelle Nationalspieler im Mittelfeld. Da war es nicht einfach, zu spielen. Vielleicht stand ich auch ein bisschen im Schatten von Deisler, der damals in ganz Deutschland in aller Munde war.
Wann war Ihnen klar, dass es in Berlin nicht weitergehen würde?
Mein Pech war, dass ich in der Rückrunde sieben Wochen mit einem Innenbandriss ausgefallen bin. Und in dieser Zeit ist das System wieder geändert worden. So habe ich für mich den Entschluss gefasst, wechseln zu wollen und ging nach Nürnberg. Und das sehe ich ein bisschen als Knackpunkt.
Inwiefern?
Wenn man als Offensivspieler zu einem Aufsteiger kommt, weiß man eigentlich, dass man mit seiner Mannschaft zunächst viel gegen den Ball spielt. Ich habe meine Qualitäten aber sicherlich mit dem Ball gehabt. Zudem habe ich viel gekostet. Das war ein lukratives Geschäft für Hertha und der teuerste Transfer des Sommers für Nürnberg. Entsprechend hoch waren die Erwartungen. Und Nürnberg war zu diesem Zeitpunkt ein sehr unruhiges Pflaster. Plötzlich musste ich aufgrund von Verletzungen permanent im Sturm spielen. Wenn die Torquote nicht passt, gerät man als Angreifer ganz schnell in die Kritik.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Das war nicht so einfach. Es war eine schwierige Zeit, auch weil ich durch Verletzungen immer wieder zurückgeworfen worden bin. Aber ich bin immer aufgestanden und habe schließlich in Aachen eine sehr schöne Zeit erlebt. Das war zwar nur die 2. Bundesliga und meine kleinste Station, aber wir hatten einen tollen Zusammenhalt. Wir sind bis ins DFB-Pokalfinale gekommen und haben im UEFA-Cup gespielt. So habe ich letztendlich wieder den Sprung zurück in die Bundesliga geschafft, zum MSV Duisburg. Da habe ich den Fehler allerdings zum zweiten Mal gemacht.
Welchen meinen Sie?
Ich bin wieder zu einem Aufsteiger gewechselt. Und es ist das Gleiche geschehen wie in Nürnberg.
Bedauern Sie manchmal, dass es nicht zur Weltkarriere gereicht hat?
Nein. Ich habe über 300 Pflichtspiele im Profibereich bestritten. Das schafft man nicht, wenn man seine Chance nicht genutzt hat.
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Kai Michalke (* 5. April 1976 in Bochum) absolvierte zwischen 1993 und 2008 158 Bundesligaspiele (18 Tore) und 99 Zweitligapartien (24 Tore) für den VfL Bochum, Hertha BSC Berlin, den 1. FC Nürnberg, Alemannia Aachen und den MSV Duisburg. Zudem kam er für Heracles Almelo auf 22 Einsätze (kein Tor) in der niederländischen Ehrendivision. 1992 wurde Michalke U16-Europameister. Heute arbeitet er als Spielerberater und lebt in Aachen.