Dortmunds Raphael Guerreiro ist eine der großen Entdeckungen der noch jungen Bundesligasaison. Heute trifft er auf seinen Förderer und Flanken-Abnehmer Cristiano Ronaldo.
Über einen Fußballer muss man oft nicht mehr wissen als seinen Spitznamen. Ein Spitzname verdichtet den besonderen Charakter und die Geschichten der Karriere auf wenige Buchstaben, die Siege und die Niederlagen, natürlich, aber eben auch den ganzen pathetischen und mystischen Rattenschwanz.
Und selbst wenn man überhaupt keine Ahnung von Fußball hat, so ahnt man doch, dass einen Spitznamen tragenden Spieler eine besondere Aura umgibt: den „Kaiser“ (Franz Beckenbauer) genauso wie „Il Fenomeno“ (Ronaldo), die „Kobra“ (Jürgen Wegmann) wie den „Kugelblitz“ (Ailton). Kurzum: Kosenamen sind eine ziemlich großartige Sache.
Blöd nur, wenn man bei der Spitznamen-Vergabe zu spät sein Veto eingelegt hat. Dann heißt man eines Tages wie ein Delphin (Jürgen „Flipper“ Klinsmann) oder ein paniertes Stück Fleisch (Tomas „Schnitzel“ Rosicky). Oder, was vielleicht noch schlimmer ist, man heißt wie „eine Zusammenschaltung mehrerer gleichartiger galvanischer Zellen bzw. Elemente“, kurz: Man heißt „Batterie“.
So nennen sie Dortmunds Raphael Guerreiro seit vielen Jahren, und der Name ist eigentlich eine Frechheit. Denn er verdichtet eben nicht die Genialität Guerreiros, er stellt nur eine einzige Eigenschaft heraus: seine duracellhasige Ausdauer. Dabei ist Guerreiro mitnichten einer von diesen unentwegten Dauerläufern, die nichts weiter können als rennen, rennen und rennen, und dabei wie zufällig einen Ball vor sich her stoßen.
„Auf dem besten Weg zum Trainerliebling“
Guerreiro ist vielseitig wie kaum ein anderer Spieler in der Bundesliga. Auch deswegen agiert er beim BVB nicht nur auf seiner angestammten linken Außenbahn, er spielt zentral, defensiv, offensiv, beinahe überall. Thomas Tuchel sagte schon kurz nach seiner Verpflichtung: „Er ist viel zu gut, um auf eine Position festgelegt zu werden. Er ist auf dem besten Weg zum Trainerliebling.“
Das war er übrigens immer schon: ein Trainerliebling. Vielleicht weil er immer ein bisschen schneller ist als andere: physisch und psychisch. Bei der EM konnte man das in verschiedenen Spielen beobachten: Wenn er Fahrt aufnimmt und den Ball unnachahmlich mit seinem Fuß durch die gegnerischen Abwehrreihen treibt, weiter, immer weiter, beugt er seinen Körper oft so weit nach vorne, dass es aussieht, er sei er der Gegenwart stets ein Stück weit voraus.
Patrice Garande, Geurreiros Trainer beim SM Caen, erkannte das schon recht früh. Er sagte mal: „Ihm mussten wir die Dinge nicht acht Tage lang erklären. Er hat immer alles sofort aufgenommen und verarbeitet.“
Die große Liebe Benfica
Heute ist Guerreiro 22 Jahre alt. Vater zweier Kinder. Europameister. Zwölf-Millionen-Neuzugang des BVB. Gesicht einer neuen Jugendbewegung in Dortmund. Hoffnung auf einen Champions-League-Sieg gegen Real Madrid. Ein rasanter Aufstieg, ohne Zweifel.
Bis vor wenigen Monaten war Guerreiro nicht mehr als ein Geheimtipp. Aufgewachsen in Le Blanc-Mesnil, Pariser Vorort, portugiesischer Vater, französische Mutter, die große Liebe: der portugiesische Fußball und Benfica Lissabon, weswegen er sich später für Portugals und gegen Frankreichs Nationalelf entschied.
In der Jugend kickte er in der Eliteakadmie Clairefontaine, dann folgten erste Profispiele beim Zweitligisten SM Caen, schließlich der Wechsel zum FC Lorient, willkommen im Graue-Maus-Land der Ligue 1.
Für seinen Nationaltrainer Fernando Santos war damals schon klar, dass Guerreiro irgendwann bei einem Topklub landen würde. „Bei seinem ersten Training reichte ein Blick, um zu sagen: Hoppla, was für ein Talent!“, sagte er mal.
Auch seine Mitspieler in der portugiesischen Nationalmannschaft konnten anfangs kaum glauben, dass er nicht längst bei einem Topklub in Spanien oder England spielte. Als Guerreiro im zweiten Spiel gegen Argentinien sein erstes Tor erzielte, fragte Cristiano Ronaldo: „Wo liegt eigentlich dieses Lorient?“ Guerreiro holte sein Smartphone hervor und zeigte seinem großen Vorbild dieses 50.000-Einwohner-Städtchen an der Atlantikküste zwischen Nantes und Brest.
Im Abstiegskampf mit Lorient
Damals lief es für Guerreiro und Lorient noch ganz ordentlich, Platz acht belegte das Team in der Saison 2013/14. Aber während sich Guerreiro stetig verbesserte, ging es für die Mannschaft zusehends bergab. 2015 und 2016 entging sie mit Ach und Krach dem Abstieg.
Es verging nicht viel Zeit, da konnte man von den üblichen Verdächtigen lesen: Liverpool, Manchester United, Barcelona und Real Madrid – alle waren heiß auf Lorients Superspieler. Letztendlich entschied sich Guerreiro für den BVB. Auch weil er sich dort mehr Spielzeit erhoffte. Gut für den BVB: Er tat das bereits vor der EM. Denn danach wäre sein Marktwert vermutlich explodiert.
Wiedersehen mit dem Vorbild
Spätestens während der EM verstanden auch andere Trainer, was Nationaltrainer Santos einst mit seinem „Hoppla“-Moment gemeint hatte. Denn oft reichten wenige Minuten, um die Genialität Guerreiros zu erahnen. Und ein Blick auf die Zahlen reichte, um dieses Gefühl zu bestätigen: 88 Prozent seiner Flanken kamen an. Was wiederum sein großes Vorbild Cristiano Ronaldo freute, der ein paar seiner Standards dem Nachwuchsspieler überließ. Und auch abseits des Platzes macht sich Ronaldo immer wieder für Guerreiro stark. Der bedankte sich im Halbfinale gegen Wales: kurze Ecke, Flanke, scharf wie ein Rasiermesser – Ronaldo musste nur noch den Schädel hinhalten, 1:0.
Der Sieg bedeutete auch ein seltsames Finale. Plötzlich spielte Guerreiro mit Portugal gegen seine Heimat Frankreich – noch dazu in Frankreich. „War schon komisch“, sagt er nach dem Spiel. „Aber solche Spiele wird es immer mal geben.“
So wie heute, wenn Dortmund Madrid empfängt. Wenn Raphael Guerreiro auf Cristiano Ronaldo trifft. Wenn es heißt: Fan vs. Förderer, Batterie vs. CR7. Klingt nach einem postapokalyptischen Science-Fiction-Film. Könnte unterhaltsam werden.