Manuel Baum wird neuer Trainer auf Schalke. 2018 sprachen wir ausführlich mit ihm: über lange Bälle und Beamte, Taktik bei Sky und ganz, ganz viel Gefühl.
Das Interview erschien erstmals in 11FREUNDE #202, im September 2018. Damals war Manuel Baum noch Trainer in Augsburg. Seit heute ist klar: Er übernimmt den FC Schalke 04.
Manuel Baum, beginnen wir mit der wichtigsten Frage des Sommers. Kam Post vom Kultusministerium?
(Lacht.) Ja, ich habe ein Schreiben bekommen.
Was stand drin?
Man hat mir mitgeteilt, dass ich noch zwei weitere Jahre von meinem Job als Lehrer beurlaubt bin.
Aber da hätte auch was anderes stehen können.
In der Tat. Und dann hätte ich mich entscheiden müssen: Beamter auf Lebenszeit oder Bundesligatrainer.
Und was hätten Sie gewählt?
Ich wäre Bundesligatrainer geblieben, obwohl dieses Geschäft extrem schnelllebig ist. Doch zum Glück musste ich die Wahl nicht treffen.
Wird jetzt in zwei Jahren neu verhandelt oder gibt es eine gesetzliche Obergrenze für Beurlaubung?
Nein, die gibt es nicht, das ist abhängig vom Einzelfall. Ich habe mich 2014 beurlauben lassen, als ich beim FCA Cheftrainer im Nachwuchsleistungszentrum wurde. Nach Ablauf der zwei Jahre werde ich also insgesamt seit sechs Jahren beurlaubt sein, dann muss man weitersehen.
Beamter auf Lebenszeit und gleichzeitig Bundesligatrainer – das ist so, als ob ein Pudelzüchter nebenbei als Löwendompteur im Zirkus arbeitet. Wie passt das zusammen?
Schon nach dem Abitur wusste ich, dass ich in den Trainerbereich gehen wollte. Mir war aber klar, dass es ein riskanter Job ist. Ich brauchte eine berufliche Sicherheit, also habe ich Sportwissenschaften studiert, und zwar auf Diplom und Lehramt gleichzeitig.
War Ihnen da auch schon klar, dass es mit der Torwartkarriere nichts werden würde?
Ich bin im älteren B‑Jugend-Jahr zu 1860 München gewechselt und habe da zwei Jahre gespielt. Dann, im älteren A‑Jugend-Jahr, sagten sie mir, dass ich es nicht schaffen würde, und boten mir an, den Vertrag aufzulösen. Das tat sehr weh. Es war der Moment, als ich realisiert habe, dass es mit der Profilaufbahn nichts wird. Ich bin dann zu Ismaning gewechselt und habe mir durch den Fußball dort das Studium finanziert.
Das war ja auch immerhin vierte Liga.
Selbst das hat mir keiner zugetraut. Mit 1,72 Meter war ich für einen Torwart nicht sehr groß. Diesen Nachteil musste ich durch Spielverständnis kompensieren und war immer so etwas wie der verlängerte Arm des Trainers auf dem Feld.
Stimmt es, dass 1860 Sie geholt hat, weil man hoffte, Sie würden noch wachsen?
Das ist richtig, ja. Für einen B‑Jugend-Spieler war ich noch durchschnittlich groß, aber dann bin ich nicht mehr gewachsen. Die meisten, mit denen ich bei 1860 war, sagen, dass ich mich dort wohl durchgesetzt hätte, wenn ich größer gewesen wäre. Ich brachte einige Sachen mit, die damals nicht selbstverständlich waren, so war ich fußballerisch sehr gut.
Nach dem Studium haben Sie nicht nur Sport unterrichtet, sondern auch Rechnungswesen, Wirtschaft und Recht. Sie sind ja der geborene Sportdirektor!
(Lacht.) Nein, nein. Ich kann ein bisschen mit Zahlen umgehen, deswegen habe ich Ökonomie und Management studiert und Buchführung unterrichtet. Ich glaube, es ist nicht schlecht, wenn man sich in dem Bereich ein wenig auskennt. Als ich beim FCA Cheftrainer im Nachwuchs war, konnte ich mich mit dem kaufmännischen Leiter inhaltlich gut austauschen.
Die Realschule in Taufkirchen, an der Sie diese Fächer unterrichtet haben, war keine normale Schule.
Es war eine DFB-Eliteschule. In jedem Jahrgang waren vier normale Klassen und eine reine Fußballerklasse. Die Schüler kamen von 1860, den Bayern, Unterhaching und einigen kleineren Vereinen. Bei mir haben sie Sportunterricht bekommen, aber eher theoretischer Natur, also Trainings- und Bewegungslehre, Sportbiologie. In ihren Stundenplan war auch Fußballunterricht integriert, den haben sie aber in ihren Vereinen erhalten.
Aber Sie hatten auch eine Schulmannschaft. Und mit der wurden Sie 2011 Deutscher Meister. Der Spieler, der damals das Siegtor machte, Sebastiano Nappo, spielt seit diesem Sommer in der Zweiten des FCA. Es war vermutlich kein Wechsel aus sentimentalen Gründen?
Nein, Sebastiano hat im letzten Jahr in Heimstetten viele Tore erzielt und ist ein richtig guter Spieler. Er ist ja auch nicht der einzige ehemalige Schüler von mir, der inzwischen bei uns in Augsburg aufgeschlagen ist.
Der bekannteste dürfte Philipp Max sein, der mal gesagt hat, Sie hätten ihn immer beim Spicken erwischt.
Tim Rieder, den wir jetzt nach Darmstadt ausgeliehen haben, war in meiner Klasse. Moritz Leitner war auch mein Schüler.
Verfolgen Sie die Lebenswege Ihrer ehemaligen Schützlinge? Nur die wenigsten werden ja Profi geworden sein.
Ja, absolut. Ich schaue mir ja regelmäßig die Amateurklassen an, und da begegnet man schon einigen von ihnen.
Sie meinen, Sie schauen sich die Ergebnisse an. Oder tatsächlich die Spiele?
Die Spiele. Gestern war ich bei einem Pokalspiel zwischen einem Bayernligisten und einem Regionalligisten. In einer Mannschaft waren fünf Spieler, die ich mal begleitet habe – zwei als Schüler, drei als Fußballer. Manchmal sind die Vereine überrascht, dass ein Bundesligatrainer bei ihnen vorbeischaut, aber ich möchte den Bezug zur Regionalität und zu den Leuten nicht verlieren, die ich in den kleineren Klubs kenne. Außerdem sieht man auch in den unteren Klassen das eine oder andere, was interessant ist.
Eigentlich überrascht es nicht, dass Sie sich in Ihrer Freizeit Amateurspiele anschauen. Sie gelten als jemand, der enorm viel arbeitet. So waren Sie schon während Ihrer Tätigkeit als Lehrer nebenbei Trainer in Unterhaching.
Der Höhepunkt war eigentlich vor Unterhaching. So um 2009 herum hatte ich ein volles Deputat an der Schule, habe Starnberg in der Bezirksoberliga trainiert und war auch noch Torwarttrainer bei Sechzig. Bei Haching hatte ich dann nur noch zwei Jobs, aber das hat auch gereicht.
Wir ersparen uns an dieser Stelle jeden Witz über die Freizeit von Lehrern – aber wie geht das rein zeitlich? Neben der normalen Präsenz muss man ja Dinge auch noch vor- und nachbereiten.
Vieles hat sich zwischen zehn Uhr morgens und drei in der Früh abgespielt. Vor allem, was die Fußballvorbereitung betrifft. Im Lehrbereich kriegt man schnell eine Routine. Nehmen wir die Sportbiologie und den Aufbau des Herzens. Das Organ verändert sich nicht, wenn du also einmal die Stunde gut vorbereitet hast, kannst du darauf immer zurückgreifen.
Wann beginnt denn in Bayern die Schule?
7.50 Uhr war Schulbeginn. Um 6.30 Uhr bin ich aufgestanden.
Macht dreieinhalb Stunden Schlaf. Pro Tag.
Damals hat mir das gereicht. (Lacht.)
Die zwei Jobs zur Ihrer Hachinger Zeit scheinen dann doch nicht genügt zu haben, denn seit damals sind Sie auch Taktikexperte bei den Champions-League-Übertragungen von Sky.
Heute aber etwas abgespeckter als 2014, als ich dort anfing. Ich betrachte es als Fortbildung, weil ich mich mit internationalen Mannschaften beschäftigen muss. In der letzten Saison war es so, dass ich ein oder zwei Sachen, die mir bei der Analyse aufgefallen sind, tatsächlich hier beim FCA einbauen konnte.
Wie kam es zu diesem Nebenjob?
Einmal im Jahr gibt es eine Fortbildung für die Sky-Mitarbeiter. Frank Wormuth, damals Chefausbilder beim DFB, referierte 2014 über Taktik. Im Nachgang haben sie ihm gesagt, dass sie ihr Analyseteam um Erik Meijer ausbauen möchten und jemanden suchen, der gut im taktischen Bereich ist. Ich machte gerade meinen Fußballlehrer bei Wormuth, da hat er mich empfohlen.
Bald jährt es sich zum 20. Mal, dass Ralf Rangnick der Nation im „Aktuellen Sportstudio“ ganz grundlegende Dinge an der Magnettafel erklären musste. Heute ist Taktik allgegenwärtig. Was ist da passiert?
Für mich war die Videoanalyse der große Durchbruch. Ich selbst habe damit angefangen, als ich 18 oder 19 war und bei Sechzig die Torhüter trainierte. Ich habe mit der Kamera am Spielfeldrand gestanden und Bewegungen analysiert – wo ist der Körperschwerpunkt, wie muss man den Fuß setzen? Durch diese Visualisierung konnte man Dinge, die man emotional wahrgenommen hatte, nun objektivieren und dem Spieler zeigen. Videos haben später auch geholfen, den Taktikbereich extrem weiterzuentwickeln.
Trotzdem ist es verblüffend, dass in einem Land, das noch 1998 als taktisch hoffnungslos rückständig galt, heute ganz normale Fans Taktikfreaks sind.
Als ich Lehrer in der Realschule war, hatte ich Schüler in der fünften Klasse, die mir genau erklären konnten, was eine Doppelsechs ist.
Lesen Sie eigentlich Blogs wie spielverlagerung.de?
Nein, eher nicht. Meine Fortbildung besteht darin, mir Spiele anzuschauen. Als Cheftrainer im NLZ hatte ich den Vorteil, dass ich Sachen an die Trainer weitergeben konnte, die sie dann ausprobiert haben. Es ist ja ein Unterschied zwischen Reißbrett und Spielfeld.
Sie haben mal gesagt, jeder Plan sei eigentlich nur dafür da, um dem Spieler auf dem Platz ein Gefühl der Sicherheit zu geben.
Genau. Und das Gefühl erarbeitet man sich unter der Woche. Nehmen wir als Beispiel das Pressing. Das Ziel ist ja die Balleroberung. Der Spieler hat also ein gutes Gefühl, wenn er in Zweikämpfe kommt, die eine Balleroberung möglich machen. Die Grundordnung dient dazu, ihn in diese Zweikämpfe kommen zu lassen. Wenn das nicht klappt, dann rennt er immer nur hinterher und plötzlich sind wir nur noch am Verschieben, um Tore zu verhindern. Auch Pressing kann ein Mittel zum Verhindern von Toren sein, doch für mich ist es in erster Linie ein Mittel zum Erzielen von Toren.
Das führt zur zweiten wichtigen Sache des Sommers, der WM. Viele Experten zogen das Fazit, dass der Ballbesitzfußball auf dem Rückzug ist.
Für mich hatte die wichtigste Erkenntnis nichts mit Taktik zu tun. Da sind wir wieder beim Gefühl. Denn der Erfolg der Kroaten hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass du dich mit deiner Aufgabe identifizierst und stolz bist, für dein Land zu spielen. Grundsätzlich ist es aber so, dass du mit einer Nationalelf wenig Zeit hast, Ballbesitz einzustudieren. Deswegen haben sich viele Teams dagegen entschieden. Ich glaube aber nicht, dass Ballbesitz out ist.
Sie haben auch gesagt, dass sich der Fußball weg von der Ballzirkulation entwickelt hat, weil die Nachwuchsleistungszentren Angriffspressing lehren, also Pressing ganz nah vor dem gegnerischen Tor, wodurch geordneter Spielaufbau immer schwieriger wird.
Das stimmt. Um gegen Angriffspressing zu bestehen, braucht man sehr gute Zirkulationsspieler, so nenne ich sie. Wenn man vor allem Vertikalspieler hat, dann führt das dazu, dass mit langen Bällen operiert wird. Früher stand der Gegner tiefer, da musste man über die Zirkulation kommen und hatte Zeit, weil man nicht sofort unter Druck gesetzt wurde.
Was ist der nächste Schritt? Was wird die Reaktion auf Angriffspressing sein?
Der zweite Ball wird jetzt kommen.
Das heißt, man überspielt die erste Pressingreihe und gewinnt dann den Zweikampf. So wie die Bayern in Guardiolas erstem Spiel gegen Klopp, als alle glaubten, er würde sein Tiki-Taka durchdrücken wollen, er aber stattdessen lange Bälle spielen ließ.
Viele tun lange Bälle als negativ ab, aber für mich ist das ein sensationelles Stilmittel gegen Angriffspressing, wenn man es gezielt trainiert und einsetzt. Wir haben das letzte Saison selbst erleben müssen. In der Hinrunde standen nur vier Mannschaften gegen uns hinten drin. In der Rückrunde waren es schon sieben oder acht – als Gegenreaktion auf unser gutes Angriffspressing. So ist das im modernen Fußball: Früher hatte der gegnerische Trainer je eine Grundordnung, defensiv und offensiv, und eine Pressingart. Heute sitzt du in der Pause und überlegst: Was wird er jetzt machen? Wir waren besser in der ersten Halbzeit, also muss er reagieren. Und was sollten wir dann tun? Gleichzeitig tust du dich als Trainer damit schwer, etwas zu ändern, weil ja in der ersten Halbzeit alles gut geklappt hat. Deswegen drehen sich Spiele in der Bundesliga so oft nach der Pause.
Sind Umstellungen immer rational? Oder auch mal aus einem Gefühl heraus?
Es gibt viele Situationen, in denen du nicht taktisch agierst, sondern aus dem Bauch heraus. Es gab Momente, in denen ich aus logischen Erwägungen umstellen wollte, weil es von der Grundordnung her nicht passte. Ich habe aber gemerkt, dass die Mannschaft ein gutes Gefühl auf dem Platz hatte, obwohl sie mehr laufen musste. Vielleicht wäre es kontraproduktiv, in solchen Momenten umzustellen, also lasse ich es. Umgekehrt passiert es auch, dass du zur Pause umstellst, obwohl du nicht musst. Wenn du zum Beispiel in Rückstand bist, das aber keine strukturellen Gründe hatte, kann es hilfreich sein, trotzdem umzustellen. Es gibt den Spielern das Gefühl, dass ihr Trainer eine Idee hat. Allein die Tatsache, dass man etwas verändert, kann den Spielern Zuversicht geben.
Wissen Sie eigentlich, dass einer Ihrer Spieler auch Trainer ist?
Klar. Martin Hinteregger trainiert in Haunstetten eine Jugendmannschaft.
Sprechen Sie darüber?
Ab und zu schon, obwohl er ja die ganz Kleinen trainiert. Ich finde es gut, dass er das macht, weil ich auch früh begonnen habe, Mannschaften zu trainieren, was mir als Spieler geholfen hat. Mir fielen Fehler auf, speziell im Torwartspiel, von denen ich da erst gemerkt habe, dass ich sie selbst mache. Man lernt auch sehr früh Mannschaftsführung. Und Elternführung.
Jugendtrainer haben ja mit den Eltern mehr Probleme als mit den Spielern. Da dürfte Hinteregger ein anderes Standing haben.
Ich weiß nicht. Man glaubt nicht, wie ehrgeizig Eltern sein können, wie sie manchmal jeden Bezug zur Realität verlieren. Ihnen ist dann völlig egal, wer vor ihnen steht. Ich habe ja auch zwei kleine Kinder und musste mich selbst schon mal bei so etwas erwischen.
Beim Fußball?
Nein, beim Skifahren. Als ich mit meiner kleinen Tochter zum ersten Mal zum Skifahren ging, fiel sie dreimal hin und der Skilehrer stand nur daneben. Ich habe einen Skilehrerschein, weil man den in Bayern als Sportlehrer haben muss. Ich wollte schon hin und ihm erklären, was er besser machen könnte. Im letzten Moment sagte ich zu meiner Frau: „Lass uns einen Kaffee trinken, damit die in Ruhe arbeiten können.“ Am Nachmittag fuhr meine Tochter dann schon gut Ski.