Über 30 Jahre nach der Hillsborough-Katastrophe wird es in den englischen Top-Ligen wieder Stehplätze geben. Fünf Vereine dürfen das sogenannte „Safe Standing“ testen. Für die Zukunft der englischen Fanszene ist das Projekt richtungsweisend.
„Ich habe die Sicherheitskräfte angebrüllt: ‚Macht das verdammte Tor auf.’“ Am 15. April 1989 kam es im Hillsborough-Stadium von Sheffield zur größten Katastrophe in der Geschichte des englischen Fußballs. Bruce Grobbelaar stand im Tor der Gäste aus Liverpool, als auf der Westtribüne in seinem Rücken 97 Menschen zu Tode gequetscht wurden. Die Zugänge zum Innenraum waren zu spät geöffnet worden. Grausame Ereignisse, die Liverpools Torhüterlegende bis heute verfolgen – und den englischen Profifußball maßgeblich veränderten. So ist etwa das seit 1994 geltende Stehplatzverbot in den Stadien der ersten und zweiten Liga als unmittelbare Folge der Katastrophe anzusehen. Es verwundert wenig, dass die nun genehmigte Testphase zur Aufhebung des Verbots für große Anspannung sorgt.
Wie die Football Supporters’ Association (FSA), die Fußballfans in England und Wales repräsentiert, bekanntgab, hat der britische Sportminister Nigel Huddlestone ein entsprechendes Pilotprojekt abgesegnet. Mit Beginn des kommenden Jahres wird es Cardiff City, dem FC Chelsea, Manchester United, Manchester City sowie den Tottenham Hotspur erlaubt sein, sogenanntes „safe standing“, also „sicheres Stehen“, im Ligabetrieb zu testen. Die fünf Klubs hatten sich als sogenannte „early adopters“ bereiterklärt, die nötige Infrastruktur zu installieren. „Fans verdienen verschiedene Optionen, um ein Live-Spiel zu verfolgen. Ich werde den Fortschritt der Tests mit Interesse verfolgen“, sagte Huddlestone. Was für deutsche Fans nach einer Selbstverständlichkeit klingen mag, gilt in England und Wales als hochbrisantes Thema. Denn Hillsborough ist alles andere als vergessen.
Vielmehr zieht sich die Aufarbeitung der Katastrophe bis in die heutige Zeit. Schon kurz nach den tragischen Ereignissen war ein Diskurs ausgelöst worden, der weit über Fußball und Trauerarbeit hinausging. Eine tragende Rolle spielte das Boulevardblatt „The Sun“, das wenige Tage nach der Katastrophe schrieb, Liverpool-Fans hätten Rettungsarbeiten behindert und sogar auf die „mutigen Polizisten uriniert“. Behauptungen, die sich Jahre später als Lüge herausstellten, in der frühen Phase der Aufarbeitung aber für großes Aufsehen sorgten. Der vorläufige Untersuchungsbericht stellte fest, dass es sich um ein Unglück gehandelt habe. Erst im Jahr 2014 nahm sich eine Kommission um Richter John Goldring einer neuerlichen Untersuchung der Ereignisse an. Ergebnis: Von einem Unglück könne keine Rede sein. Stattdessen seien Gesetze gebrochen worden und die Katastrophe letztlich eine Folge davon. Besonders die Polizei habe an mehreren Stellen falsch gehandelt und trage damit eine erhebliche Mitschuld. Die zuständigen Beamten hätten die Überfüllung der Blöcke zu spät bemerkt und nicht wie erforderlich in die Regulierung des Einlasses eingegriffen. Zudem wurden Falschaussagen seitens der Polizei festgestellt.
Nun wirkt das Stehplatzverbot neben den Ausmaßen der Katastrophe wie eine marginale Begleiterscheinung. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn über Jahrzehnte wurden Fans für ihr Verhalten auf dem Leppings Lane End kritisiert. Erst die Goldring-Untersuchung sprach die in Hillsborough anwesenden Fans ausdrücklich von jeglicher Mitschuld frei. Ein grundsätzliches Risiko, das von einer größeren Zahl stehender Fußballfans ausgehe, konnte somit nicht mehr vorausgesetzt werden.
In der Folge argumentierte beispielsweise die FSA, dass ein sicheres Stadionerlebnis auch mit Stehplatzbereichen möglich sei – wenn nur die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen würden. Ein Aspekt, den unter anderem Ken Scott von der Sports Grounds Safety Authority (SGSA) aufgriff und in eine Reihe von Anforderungen an Stehplätze in Englands Stadien umformulierte. Darunter: Klappsitze, Barrieren und Geländer, eine vollständige Videoüberwachung, die Schulung des Ordnungspersonals, der Aushang eines Verhaltenskodex sowie die strikte Kapazitätsbegrenzung der Stehplatzbereiche. Gerade der letzte Punkt auf der Liste scheint von Bedeutung. Denn mit der nun genehmigten Rückkehr der Stehplätze werden die Kapazitätsgrenzen der Stadien nicht nach oben verschoben. Ein Sitzplatz wird schlicht durch einen Platz im Safe Standing-Bereich ersetzt. Zum Vergleich: In Deutschland entspricht ein Sitz- fast zwei Stehplätzen.
Es geht bei dem Projekt also nicht um eine Rückkehr zum Zustand früherer Tage: Die berühmten Terraces, weitläufige Stehplatzbereiche, wird es in England nicht mehr geben. Doch trotzdem soll einer positiv verlaufenen Testphase eine Wiedereinführung der Stehplätze im kompletten Profibereich folgen. Zumindest, wenn es nach Fanorganisationen geht. Langfristig könnten auch die Stadien der Bundesliga als Vorbild dienen. Scott sagt: „In den kommenden Jahren könnten sich die englischen und walisischen Klubs durchaus am Beispiel Deutschlands orientieren, wo ein Drittel der Stadionkapazität mit Safe Standing-Bereichen abgedeckt ist. Das Stadion von Borussia Dortmund hat zum Beispiel 53.675 Sitz- und 27.589 Stehplätze.“
Für Fanvertreter Kevin Miles von der FSA ist die Rückkehr der Stehplätze selbst im übersichtlichen Rahmen der Testphase richtungsweisend. Schließlich bedeutet der Schritt, dass die Stimme der Stadiongänger im englischen Fußball gehört wird – ein Umstand, der über Jahrzehnte ernsthaft bezweifelt werden musste. „Das ist ein weiterer Erfolg für die Fans, die lange argumentiert haben, dass das Stehen im Stadion auf sichere Weise möglich ist. Wir gratulieren den fünf Klubs dazu, dass sie sich bemüht haben und den Fans nun eine wirklich Wahl lassen, wie sie Fußball schauen wollen.“
Künftiger „Safe Standing“-Bereich an der Stamford Bridge