Ständig nörgeln Fans und Journalisten über die spielerische Qualität von WM-Gruppenspielen. Aber was wäre ein Fußballturnier ohne Kicks wie Marokko gegen Iran? Langweilig!
Während ich diesen Text schrieb, saß ich in einem Zug von Moskau nach Sankt Petersburg, und einige meiner Kollegen hatten mich mit sorgenvoller Miene gefragt, ob ich noch ganz bei Trost sei. Schließlich reiste jeder, der nur ein bisschen Ahnung von Fußball hat, nach Sotschi, um dort das attraktivste und vermutlich auch beste Vorrundenspiel dieser WM zu sehen: Spanien gegen Portugal. Schöne Übersteiger, schöne Jubel, schöne Menschen.
Und in Sankt Petersburg? Da traf Marokko auf den Iran. Ein WM-Spiel, das der gemeine Fußballfan nach einer durchzechten Nacht zwischen vier und fünf Uhr morgens in der Wiederholung laufen lässt, während er selig auf dem Sofa wegschlummert. Ein Spiel, das genaugenommen nicht mal Spiel heißt. Der Fußballfan nennt es: Kick.
„Die machen unseren Sport kaputt!“
Diese Kicks (wahlweise auch Grotten- oder Horrorkick) machen den Großteil einer WM-Gruppenphase aus. Die teilnehmenden Mannschaften kommen etwa aus Saudi-Arabien, Griechenland, Slowenien, Iran oder Marokko. Die Spieler sind aktiv in der zweiten belgischen oder sitzen auf der Ersatzbank in der dritten spanischen Liga, manchmal sind sie vereinslos. Bei jeder WM ziehen sie den Zorn der Fußballexperten auf sich. „Die verwässern das Turnier!“, empört sich der eine. „Die machen unseren Sport kaputt!“, ruft der andere. Die mauern, grätschen und kratzen! The unbeautiful game.
Aber liegt Schönheit nicht auch beim Fußball im Auge des Betrachters? Kann es nicht wohltuend sein, zwischen all dem Highspeed-Tikitaka taktische Formationen zu beobachten, die von oben aussehen wie ein aufgeklappter Döner? Und warum reagieren so viele Zuschauer persönlich beleidigt, wenn ein Fußballspiel mal kein Mega-Event ist?
Ich verliebte mich in den (sogenannten) hässlichen Fußball Anfang der Neunzigerjahre. Mein Verein war der HSV, was vermutlich schon einiges erklärt. Die Mannschaft spielte damals in einer Betonschüssel, die den Charme einer sowjetischen Trabantenstadt versprühte. Waldemar Matysik oder Jörg Bode hießen unsere Hoffnungsträger, auch wenn ihre Flanken oft im angrenzenden Volkspark landeten.
Die Schönheit der immer wieder kehrenden Chance
Bayern München hingegen zelebrierte das (sogenannte) schöne Spiel. Dabei war ihr Fußball, bei genauerem Hingucken, einfach nur effektiv und rational. Die Bayern spielten Bausparvertragfußball. Die meisten anderen Fans in Deutschland trotteten hingegen jeden Samstag zu einem Punkrock-Konzert, bei dem sie nie so genau wussten, was sie erwartete. Es war spontan und voller Zufälle, es war dilettantisch und irritierte, aber genau das machte es so faszinierend. Wir staunten nicht über Schönheit des dauerhaften Erfolgs, sondern über die Schönheit der immer wieder kehrenden Chance.
Irgendwann tauchten das Privatfernsehen und die Wissenschaftler auf. Sie eliminierten den Zufall im Spiel und das Staunen auf den Rängen. Sie erfanden den Supersamstag und Spieler, die mit verbundenen Augen Pässe von der Allianz-Arena vor die Tür der Frauenkirche schlagen konnten. Das alte Fan-Lied „Wir stehen Schlange vor dem Stadion, es riecht nach Bier und Sieg und nach Sensation“ hatte ausgedient. Nach Sensation roch nichts mehr.
Die Perfektionierung des Fußballs ist mittlerweile fast abgeschlossen. Die meisten großen Spiele unterscheiden sich kaum von Blockbusterfilmen in einem Cinemaxxx-Kino. Tolle Effekte, viel Action, geile Stunts, klar. Und diese Superhelden erst, die auch nach 90 Minuten noch aussehen wie auf einem Hugo-Boss-Poster. Aber überraschen die Spiele noch? Hat man sie nicht alle schon mal gesehen? Alle zwei Wochen ein neuer Clasico, ein neuer Kampf der Giganten, Wiederholungen von Wiederholungen.
In Stadien, die Arenen heißen und überall gleich aussehen und gleich klingen. Mega, krass, geil, und jetzt die Hände zum Himmel, komm lass uns fröhlich sein. Auf dieser Fußballautobahn des Dauer-Entertainments fühlen sich schon kleine Umwege sehr erholsam an. Ein Drittligaspiel im Eduard-Strelzow-Stadion von Torpedo Moskau. Oder zumindest Iran gegen Marokko in Sankt Petersburg. OmU-Programmkino statt 3D-Cinemaxxx. Die Protagonisten kennen nur die Nerds. Irans Alireza Jahanbakhsh? 21 Tore in der abgelaufenen Saison für AZ Alkmaar!
Es ist grotesk, sich über WM-Gruppenspiele aufzuregen
Eigentlich dürstet das Publikum ja nach neuen Geschichten, aber wer erzählt sie noch? Real Madrid gegen Bayern München? Portugal gegen Spanien? Jamie Vardy und Leicester in der Premier League 2016, Island und Wales bei der EM 2016 – das waren Geschichten, die man so noch nicht kannte. Trotzdem plädieren Fußballfunktionäre von Topklubs seit Jahren für die Abspaltung der Fußballelite vom großen grauen Rest.
Wie sprechende Power-Point-Präsentationen skizzieren Männer in Madrid, London oder München ihre neue goldene Fußballwelt, die in Wahrheit steril und kalt ist, weil für kleine Teams kein Platz mehr ist. „Wir müssen den europäischen Spitzenfußball den Anforderungen des globalisierten Marktes anpassen“, sagte Karl-Heinz Rummenigge mal.
Zu Recht ernten Männer wie Rummenigge für ihre Wir-hier-oben-ihr-da-unten-Reden regelmäßig Kritik von den Fans. Aber ist es nicht geradezu grotesk, wenn man sich im nächsten Moment über die Qualität von WM-Gruppenspielen aufregt? Über die Verwässerung eines Turniers? Über kleine Mannschaften, die keine elf Superstars haben, sondern nur gewöhnliche Spieler? Über Saudi-Arabiens Nationalelf, die im Eröffnungsspiel gegen Russland 0:5 unterging?
Verunglückte Grätschen, 90 Minuten ohne Toraumszene: Auch das ist Fußball
Fußball war doch immer schon so vieles: ein Fallrückziehertor von Gareth Bale, ein Hackentor von Zlatan Ibrahimovic, aber auch die verunglückte Grätsche von Omar Hawsawi und der falsche Einwurf von Adolfo Machado. Oder das Eigentor von diesem Typen aus Trinidad oder Neukaledonien, von dem man sich den Namen nicht merken kann, dafür aber weiß, dass er eigentlich als Postbote oder Imker arbeitet. Manchmal gehen Spiele 0:0 aus, manchmal sehen die Zuschauer in 90 Minuten keine einzige Torraumszene.
Manchmal ist Fußball dreckig und kantig. Manchmal denkt der Fan sogar, er könnte selber mitspielen. Aber wer sich nach einem Grottenkick über das Niveau beschwert, als habe er ein Recht auf Entertainment, sollte das nächste Mal wieder einen Spiderman-Film anschauen. Da weiß man, was man bekommt. Man weiß sogar, wer gewinnt.
„Und dann werden wir Weltmeister!“
Noch zehn Minuten bis nach Sankt Petersburg, der Zug verlangsamte bereits. „Was meinst du, wie weit werden wir kommen?“, wollte ein junger Iran-Fan wissen, der sich zu mir ins Abteil gesetzt hatte. Ich zog die Schultern hoch. „Der Typ von Alkmaar soll gut sein“, sagte ich. „Er ist der beste seit Ali Daei“, antwortete der Fan.
„Was meinst du denn, gewinnt ihr ein Spiel?“, fragte ich ihn, und dann sah ich auch in seinen Augen die Schönheit der Chance. Es ist die erste Partie, alles ist möglich, alles ist noch erleuchtet. „Vielleicht gewinnen wir, und vielleicht bekommen wir einen Lauf“, sagte er. Und dann? „Und dann werden wir Weltmeister!“ Ich lächelte, aber der Mann lächelte nicht. Er meinte das ernst. Komplett größenwahnsinnig und sehr irritierend. Ein bisschen wie der HSV. Wir sollten Freunde werden.