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Sebas­tian Wells

Der Bür­ger­meister von Palermo, Leo­luca Orlando, sitzt hinter seinem präch­tigen Schreib­tisch in seinem pom­pösen Rat­haus auf der Piazza Pre­toria in Palermo. Er ist inter­na­tional bekannt, weil er Palermo in über zwei Jahr­zehnten im Amt von der Haupt­stadt der Mafia zur sichersten Stadt Ita­liens machte, die Palermo heute laut Kri­mi­nal­sta­tistik ist. Er wird gerade außerdem viel gelobt, weil seine Stadt bei Tou­risten immer beliebter wird und weil er Geflüch­tete mit offenen Armen emp­fängt. Und viel­leicht wird man eines Tages auch noch über Orlando sagen, dass er den Fuß­ball­verein von Palermo ret­tete. Er sagt, dass er vor dieser Saison in den letzten Jahren nur ein ein­ziges Mal im Sta­dion gewesen sei und das auch nur, weil ein Erz­bi­schof ihn dazu ein­ge­laden hatte und er nicht ablehnen konnte. Ein Fan ist er trotzdem, des­halb hat er sich der Sache ange­nommen, als es dem berühm­testen Fuß­ball­klub Sizi­liens vor kurzem sehr schlecht ging. Diesen Sommer war die Lei­den­schaft leer und die Tifosi waren müde“, sagt der Bür­ger­meister, der wegen seiner großen Augen­ringe selbst immer ein wenig müde aus­sieht. Also musste ich ent­scheiden.“

Und weil er das tat, vibriert an diesem Sonntag im Stadio Renzo Bar­bera, das so zau­ber­haft schmud­delig wie die Stadt selbst ist, die Luft vor Vor­freude. Palermo hat die ersten fünf Spiele der Saison gewonnen und führt die Tabelle an. Die Fans singen auf die Melodie des ita­lie­ni­schen Som­mer­hits Ostia Lido“ einen abge­wan­delten Text. Er geht in etwa so: Wen küm­mert es schon, dass du jetzt pleite bist. Wir bleiben zusammen, wir sind noch hier, das steht fest.“ Dann hüpfen alle, Kinder und Erwach­sene mit rosa Schals, manche lachen dabei, viel­leicht weil das Schlimmste doch über­standen sein sollte. Oder ange­sichts der Tat­sache, dass sie sport­lich gesehen den tiefsten Punkt in der Geschichte des Fuß­ball­ver­eins von Palermo erreicht haben und sich auch nicht mehr anders zu helfen wissen. Hinter ihnen die Berge, das Meer nicht weit, das Spiel beginnt, und wäre alles nicht so schreck­lich schwarz gewesen in den ver­gan­genen Monaten, wäre das hier ein schöner, zart­rosa Moment.

40 Trainer in 15 Jahren

Es ist noch gar nicht so lange her, da ging es dem Klub eigent­lich prächtig. US Palermo spielte jah­re­lang in der Serie A, erreichte den Uefa-Cup, Spieler wie Luca Toni, Javier Pas­tore, Edinson Cavani und Paulo Dybala wurden günstig ver­pflichtet und teuer ver­kauft. Aller­dings hatte der Klub mit Mau­rizio Zam­pa­rini einen Prä­si­denten, über den nicht nur die Fans in Palermo den Kopf schüt­telten. In 15 Jahren feu­erte er 40 Trainer. Wenn er öffent­lich auf­trat, scherzte oder schimpfte er, je nach Laune, als hätte er soeben ent­weder sein gesamtes Ver­mögen ver­dop­pelt oder es kom­plett ver­spielt. Des­halb hielt sich die Trauer in Grenzen, als er US Palermo, zu diesem Zeit­punkt Tabel­len­führer der Serie B, im Dezember 2018 für sym­bo­li­sche zehn Euro ver­kaufte. Die Anhänger hatte er schon länger ver­loren. Doch wer wirk­lich hinter dem Lon­doner Unter­nehmen Global Futures Sports and Enter­tain­ment stand, dem US Palermo fortan gehörte, blieb unklar. Die unbe­kannten Eng­länder ver­spra­chen Inves­ti­tionen, ein neues Sta­dion und über­nahmen die Schulden des Ver­eins.

Doch schon im Februar 2019, nach nicht einmal zwei Monaten, wollten sie den Klub schon wieder los­werden. Die Spie­ler­ge­hälter konnten nicht länger bezahlt werden, die Lage schien aus­sichtslos, dem Verein drohte ein Punkt­abzug. Der Prä­si­dent des Erst­li­gisten CFC Genua wollte Palermo zwar kaufen, hätte dafür aber erst Genua ver­kaufen müssen, also platzte der Deal. Ein Unter­nehmer aus Palermo half erstmal aus und zahlte die feh­lenden 2,8 Mil­lionen Euro für die Gehälter, im Gegenzug bekam er die Wer­be­rechte des Ver­eins für vier Jahre.

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Sebas­tian Wells

Im Mai 2019 kaufte Arkus Net­work, ein ita­lie­ni­sches Unter­nehmen aus der Tou­ris­mus­branche, den inzwi­schen mit fast 50 Mil­lionen Euro ver­schul­deten Verein. Doch wäh­rend die Spieler mit guten Chancen noch um den Auf­stieg in die Serie A kämpften, wurde das Schicksal des Ver­eins am Grünen Tisch besie­gelt. Der ita­lie­ni­sche Fuß­ball­ver­band warf der US Palermo diverse Ver­gehen vor, dar­unter Bilanz­fäl­schung über meh­rere Spiel­zeiten. Der Zwangs­ab­stieg in die Serie C drohte, doch es sollte noch schlimmer kommen. Weil Arkus Net­work aus bis heute nicht geklärten Gründen eine Bürg­schaft nicht vor­legen konnte, ver­schärfte der Fuß­ball­ver­band die Strafe noch und schickt Palermo in die viert­klas­sige Serie D, zu den Dilet­tanti, den Ama­teuren.

Dadurch gab es zudem die US Palermo nicht mehr, und es kam der Moment, in dem sich Bür­ger­meister Orlando der Sache annahm. Es ist eine Beson­der­heit des ita­lie­ni­schen Fuß­balls, dass der Ver­band sich an die Bür­ger­meister der Städte wendet, die einen Verein ver­loren haben. Sie können die Lizenz dann an einen neuen Klub ver­geben. Orlando tat das auf unge­wöhn­liche Weise, näm­lich in Form einer öffent­li­chen Aus­schrei­bung. Er erhielt meh­rere Ange­bote, unter anderem von finanz­starken Inves­toren aus Asien und der Schweiz, ent­schied sich aber für das Pro­jekt jenes Unter­neh­mers aus Palermo, den die Fans bereits kannten, weil er im Februar die 2,8 Mil­lionen Euro zuge­schossen hatte, um letzt­lich erfolglos die Pleite abzu­wenden: Dario Mirri. Wäh­rend Orlando per Live­stream ver­kün­dete, wer die Besitzer des neuen Ver­eins waren, standen auf der Piazza Pre­toria unten am Rat­haus die Ultras von Palermo, zün­deten Ben­galos und fei­erten, als hätte Orlando soeben ver­kündet, dass ein Wunder geschehen sei und Palermo doch an den Play­offs für die Serie A teil­nehmen könne.

Ein 2,8 Mil­lionen schwerer Ret­tungs­ver­such

Drei Monate nach der Ent­schei­dung des Bür­ger­meis­ters kommt Dario Mirri, 50 Jahre alt, kurze, grau-schwarz melierte Haare, sport­li­cher Typ, auf seiner Vespa ange­fahren, lächelt breit und setzt sich in den Büro­raum des Sta­dions, oder besser gesagt, in das, was davon übrig­ge­blieben ist: ein Tisch und ein schiefes Regal. Im Trep­pen­haus prangt an den Türen das alte Logo mit dem Adler und dem ver­gol­deten Schriftzug US Citta di Palermo“. Die 2,8 Mil­lionen Euro hat Mirri höchst­wahr­schein­lich ver­loren, durch seinen Ret­tungs­ver­such aber auch etwas Wich­tiges erlangt: das Ver­trauen der Fans. Sie wissen, dass ich mich per­sön­lich ver­ant­wort­lich fühle“, sagt er. Weil ich früher im Sta­dion saß und dachte, dass der Verein mir gehört, will ich jetzt, dass das alle fühlen. Denn so ist es doch auch.“ Schließ­lich sei das Stadio Renzo Bar­bera nicht zufällig nach dem­je­nigen benannt, der früher schon mal ein ähn­li­ches Gefühl geweckt hat: Renzo Bar­bera, Mirris Groß­onkel.

Bar­bera, genannt Il Pre­si­den­tis­simo“ war von 1970 bis 1980 Prä­si­dent Palermos, galt als großer Sports­mann, weil er Spie­lern der geg­ne­ri­schen Mann­schaft nach dem Spiel schon gra­tu­lierte, als man noch nicht von hun­derten Kameras beob­achtet wurde. Mit ihm, dem Bruder seiner Oma, ging Mirri als Kind ins Sta­dion. Bar­bera brachte Palermo damals Moral bei. Und was will Mirri mit dem Klub errei­chen? Er lehnt sich zurück, faltet seine Hände und sagt fei­er­lich: Eine kul­tu­relle Revo­lu­tion.“ Überall auf der Welt ent­gleite der Fuß­ball den Fans gerade, des­halb werde er sie in seinen Verein ein­binden, so sehr es geht. Und wel­cher Moment ist besser dafür geeignet, als der, wenn man ganz unten ist und ganz neu anfangen muss?

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Mirri trägt ein schwarzes T‑Shirt mit dem Logo des neuen Ver­eins, einem weißen Adler. Am rechten Ärmel steht eine Nummer: 1. Es ist das T‑Shirt, das auch die meisten Fans im Sta­dion tragen. Die Zahl steht für die Nummer der Dau­er­karte. Außerdem beschloss Mirri, dass zehn Pro­zent des Ver­eins den Mit­glie­dern gehören sollen. Über das Design der Tri­kots ließ er vor der Saison online abstimmen. So viel Teil­habe gab es in Palermo noch nie. Auf Sizi­lien wurde his­to­risch gesehen immer nur auf bes­sere Zeiten gewartet“, erklärt Mirri. Die Völker kamen, regierten und gingen“, eine echte Revo­lu­tion habe es nicht gegeben.

Jetzt kommt der Mann, dessen Vater mit Außen­wer­bung reich geworden ist, und sagt, dass er von jedem Anhänger ver­langt, aktiv zu werden. Seine erste Pres­se­kon­fe­renz hielt er vor meh­reren hun­dert Fans im Sta­dion ab. Es war ein heißer Som­mertag, viele Men­schen fuhren auf dem Weg zum Strand in Mond­ello am Sta­dion vorbei und hörten sich an, was der neue Pre­si­dente zu sagen hat. Mirri erzählt, dass seine Frau ihm noch geraten habe, sich einen Zettel mit Notizen mit­zu­nehmen, damit er nichts ver­gesse, weil er so auf­ge­regt sei. Aber Mirri habe geant­wortet, dass er alles, was er zu sagen habe, in seinem Herzen trage. Mirri weiß, was die Leute gerne hören wollen. Das Wich­tigste jetzt ist authen­ti­sche Kom­mu­ni­ka­tion“, sagt Mirri und macht des­halb kein Geheimnis daraus, dass sich Palermo für ihn auch unter­neh­me­risch rechnen soll. Die Fio­ren­tina etwa, so erklärt er, sei diesen Sommer für 170 Mil­lionen Euro ver­kauft worden. Palermo ist größer und wäre nach seinen Schät­zungen mehr wert, zudem gebe es bei den Fans und bei der Ver­mark­tung ein großes Wachs­tums­po­ten­tial. Schließ­lich leben über die Welt ver­streut etwa sechs Mil­lionen Sizi­lianer in zweiter oder dritter Gene­ra­tion, 200 000 allein in Deutsch­land. Mirri sieht in ihnen poten­ti­elle Palermo-Fans“, die Spiele des Klubs sehen und viel­leicht ein Trikot kaufen wollen.

Palermo gehört jetzt wieder Palermo“

Mirri und seinem Vater gehören sechzig Pro­zent des neuen Ver­eins, der nun SSD Palermo heißt, die anderen vierzig Pro­zent kaufte sich der Unter­nehmer Tony Di Piazza, der aus einer kleinen Stadt bei Palermo stammt und nach New York aus­wan­derte. Gemeinsam grün­deten sie das Unter­nehmen Hera Hora, erar­bei­teten ein Kon­zept für Palermo und bewarben sich damit beim Bür­ger­meister. Ihr Slogan, der nun unter dem neuen Logo geschrieben steht, lautet: Le nostre radici, le nostre ali“, Unsere Wur­zeln, unsere Flügel.“ Mirri steht für die Wur­zeln. Sein Lieb­lings­satz ist: Palermo gehört jetzt wieder Palermo“. Der Italo­ame­ri­kaner Di Piazza steht für die Flügel, er soll die Marke ver­kaufen und dafür sorgen, dass der Verein so schnell wie mög­lich in der Serie A spielt. Orlando sagt, er habe das Pro­jekt von Hera Hora gewählt, weil es am besten zur Stadt passe. Des­halb hat sich nicht das wie­der­holt, was 1986 pas­siert ist. Auch damals ging der Klub pleite und erlebte den Zwangs­ab­stieg in die Serie C, worauf die Pal­ermi­taner wut­ent­brannt auf die Straße gingen und schwer ran­da­lierten. Orlando, damals schon Bür­ger­meister, erin­nert sich daran, wie schwierig es gewesen sei, die Situa­tion unter Kon­trolle zu halten. Dieses Mal sei das anders gewesen, sie haben eben Erfah­rung im Umgang mit Pleiten in Palermo.

Der Bür­ger­meister wurde von Mirri auch gebeten, erst­malig in der Ver­eins­ge­schichte für den neu­for­mierten Klub eine unab­hän­gige Auf­sichts­person zu nomi­nieren. Orlando ent­schied sich für Leo­nardo Guarn­otta, einen ehe­ma­ligen Staats­an­walt, der sich in den dun­kelsten Jahren Palermos gegen die Mafia ein­setzte und als großer Fuß­ballfan gilt. Orlando nennt die Phase, durch die der Verein gerade geht, einen Akt der Demut. Alles in Palermo ver­än­dere sich langsam. Man muss die Zeit respek­tieren.“

Nur ist das mit der Zeit im Fuß­ball so eine Sache. Einer­seits will Mirri mit dem neuen Klub schnellen sport­li­chen Erfolg, aber er will den Fuß­ball in der Stadt auch grund­sätz­lich ver­än­dern. Wie kann es sein, dass es in Palermo, der fünft­größten Stadt Ita­liens, nur drei Rasen­plätze gibt“, fragt er. Einer davon ist im Sta­dion, einer beim ita­lie­ni­schen Militär und ein dritter gehört der Uni­ver­sität. Des­halb plant die Ver­eins­füh­rung auch den Bau von Fuß­ball­plätzen. Etwa im Stadt­viertel Zen, wo Kinder ohne Helme auf den Moto­rini um die Häuser rasen, wo nicht nur Wände brö­ckeln, son­dern Decken ein­stürzen und wo deut­lich mehr Müll liegt als im Rest der Stadt. Wo Toto Schil­laci, Palermos berühm­tester Fuß­baller, als Kind den Bällen hin­ter­her­lief und wo nun end­lich neue Talente geför­dert werden sollen. Es ist kein Zufall, dass Sizi­lien so wenig gute Fuß­baller her­vor­ge­bracht hat und dass in der Serie A kein ein­ziger Sizi­lianer spielt. Also sieht das Pro­jekt des neuen Klubs ein Nach­wuchs­leis­tungs­zen­trum vor, eine Frau­en­fuß­ball­mann­schaft soll eben­falls eta­bliert werden, Geflüch­tete sollen ein­ge­bunden werden, das Sta­dion reno­viert und end­lich Trans­pa­renz geschaffen werden. Erst Wur­zeln schlagen und Palermo dann zum Fliegen bringen.

Aber erst einmal ist die Flug­höhe bescheiden und doch wun­der­schön. An einem Sonntag im Oktober spielt Palermo gegen Cit­ta­novese. Cit­ta­novese“, sagt Mirri, grinst kurz, zieht dann die Mund­winkel runter und zuckt mit den Schul­tern, als hätte er das noch nie gehört. Bür­ger­meister Orlando sitzt auf der Ehren­tri­büne, er kommt diese Saison zu jedem Heim­spiel ins Sta­dion. Er ist nicht der Ein­zige, dem Fuß­ball in Palermo plötz­lich Freude bereitet. 10 446 Dau­er­karten in der Serie D, der vierten Liga, ein Rekord, dabei kommen die Gegner aus Klein­städten in der Nähe wie Aci­reale, Licata oder Marina di Ragusa. Letzte Saison, als es um die Rück­kehr in die Serie A ging, ver­kaufte man nur etwas mehr als 2000 Dau­er­karten.

Alles im Herzen“ 

Mirri geht kurz vor Anpfiff über den Rasen auf seinen Platz gegen­über der Haupt­tri­büne. Auf der Gra­di­nata“ in Reihe 19 auf Platz 24 saß er schon als Wirt­schafts­stu­dent. Die Fans klat­schen, rufen ihm Grande Pre­si­dente“ zu, wenn er vor­bei­läuft. Er schüt­telt Hände, macht brav Sel­fies mit ihnen, bittet um Geduld mit dem Verein und ver­spricht wenig. Die Fans ver­trauen ihm, aber was sollten sie auch sonst tun?

Die jungen Spieler Palermos tragen keine Namen auf den Tri­kots, nur die Wenigsten werden gut genug sein, den Verein auf dem Weg in die Serie C oder die Serie B zu begleiten. Ein paar Fans werden sich trotzdem an sie erin­nern. Später einmal, denn sie spielten mit, als Palermo ganz unten war. Palermo gewinnt auch das sechste Spiel in Folge, 4:1, und bleibt Tabel­len­führer. Als Mirri sich ver­ab­schiedet, greift er noch in seine Hosen­ta­sche, holt einen zer­knit­terten Zettel hervor, ent­faltet ihn, geht die Stich­punkte darauf durch und sagt: Sage ich doch: Alles im Herzen.“