30.000 Tote und Spiele unter Raketenbeschuss: 1994 verlor Qarabag Agdam im Krieg seine Heimat, die Stadt gleicht seither einer Geisterstadt. Aslan Kerimow war mittendrin.
Es war der Lada. Blau wie der Himmel über Baku war er, nagelneu überdies, und wie hätte Aslan Kerimow ihm da widerstehen können? Nicht einmal ganz 20 Jahre alt war der talentierte Verteidiger, und hatte er sich das Leben eines Fußballprofis nicht genau so vorgestellt? Wer gut kickte, bekam für einen Vereinswechsel schicke Autos. Und in Aserbaidschan galt 1992 ein blauer Lada sehr wohl als ein Wagen, mit dem man richtig was hermachen konnte.
Außerdem waren die sportlichen Aussichten auch nicht schlecht. Immerhin kam das Angebot von einem Klub, der in der Saison zuvor – der ersten im gerade unabhängig gewordenen Land – Zweiter geworden war. Die Sache hatte nur einen Haken. Der FK Qarabag Agdam spielte mehr als sieben Autostunden von Baku entfernt. Vor allem aber war er in einer Region zu Hause, die, so abgelegen sie auch war, es in jener Zeit bis in die Weltnachrichten schaffte.
Soldaten, Panzer, explodierende Granaten
Man sah dort Bilder von Soldaten, von Panzern, explodierenden Granaten und toten Menschen unter Leichentüchern. Die Nachrichtensprecher erzählten dazu eine komplizierte Geschichte, in der von Ländern die Rede war, die gerade erst im Jahr zuvor ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erstritten hatten: Armenien und Aserbaidschan.
Ihre neue Freiheit nutzten sie erst einmal dazu, einen Krieg um jene Region im Kaukasus zu führen, wo der Klub spielte, der Kerimow lockte: Nagorny Karabach. Seit Jahrhunderten lebten dort christliche Armenier und muslimische Aserbaidschaner zusammen, nicht immer friedlich, jetzt aber offen gewalttätig.
„Der schwarze Januar“
Für Aslan Kerimow bedeutete das: Wenn er den blauen Lada haben wollte, musste der Mann, der eines Tages zum Rekordnationalspieler Aserbaidschans werden sollte, ins Krisengebiet wechseln. „Aber warum hätte ich Angst haben sollen?“, fragt er fast zwei Jahrzehnte nachdem er sich der Mannschaft in Agdam angeschlossen hat. Und dann erzählt er vom „schwarzen Januar“. Damals, im bitterkalten Januar 1990, hatte es wochenlang immer wieder Demonstrationen auf dem Leninplatz im Zentrum von Baku gegeben. Sie richteten sich gegen die armenischen Unabhängigkeitsbemühungen in Nagorny Karabach.
Auch Kerimows Vater schloss sich den Protesten an und wachte an einer improvisierten Barrikade in der Nähe der Wohnung, wohin Aslan und seine Schwester ihm Essen brachten. Am 20. Januar schließlich wälzten sowjetische Panzer den Widerstand nieder, denn damals sah sich die UdSSR noch als die einzige Macht im Kaukasus. „Ich habe gesehen, wie Panzer über Autos rollten und Menschen zerquetschten. Damals war Baku auch nicht sicherer als Karabach.“ Man könnte denken, dass Kerimow daher zwei Jahre später vielleicht auch aus einem Gefühl patriotischer Aufwallung ins Krisengebiet wechselte. Doch ehrlich gesagt, ging es dem damals noch sehr scheuen Jungen neben der Chance auf Fußball in einer guten Mannschaft doch eher um den Lada.
Sportlich gesehen erwies sich der Wechsel an die Front schnell als eine ausgesprochen gute Entscheidung. Kerimow wurde sofort Stammspieler einer Mannschaft, deren schwierige Situation sie besonders heimstark machte. Abgesehen vom ersten Spiel wurden alle Partien im heimischen Imaret-Stadion gewonnen. Allerdings mussten einige Spiele abgebrochen werden, weil der Raketenbeschuss so nahe kam, dass für Zuschauer und Spieler unmittelbare Lebensgefahr bestand.
Niemand wusste, wie es weitergehen würde
Trotzdem endete die Saison mit dem größtmöglichen Triumph, denn Kerimow gewann mit dem FK Qarabag das Double. Im Mai 1993 holte seine Mannschaft vor zehntausend Zuschauern in Baku zunächst den Pokal, und am 1. August siegte sie dort auch noch im Endspiel um die Meisterschaft.
Doch da waren nur noch halb so viele Zuschauer im Stadion wie beim Cupfinale, die Leute hatten plötzlich ganz andere Sorgen als Fußball. Acht Tage zuvor war Agdam von armenischen Truppen besetzt worden. 130 000 Bewohner flohen aus der Stadt und der näheren Umgebung. Niemand wusste, wie es weitergehen würde. Gleich nach Ende des Spiels packten die Spieler ihre Sachen zusammen, es gab Wichtigeres zu tun. Wie schlimm es um ihre Heimatstadt stand, hatte man ihnen erst nach Spielschluss gesagt, und die meisten machten sich direkt auf die Suche nach ihren Angehörigen.
Agdam sollte für immer unbewohnbar bleiben
Eine Meisterfeier gab es nicht. Kerimow, der Junge aus Baku, nahm die U‑Bahn und fuhr zum großen Boulevard der Stadt. Auf dem Schwarzmarkt kaufte er eine Dose Cola, ging zur Uferpromenade hinüber und schaute aufs Kaspische Meer hinaus. Er beschloss, dass er mit seinen Mannschaftskameraden noch mal eine richtige Meisterparty feiern würde. In diesem Moment konnte er allerdings nicht wissen, dass sein Klub das Schicksal vieler Menschen in der Region teilen würde.
Denn fortan konnte der FK Qarabag nicht mehr in Agdam spielen. Auf die massiven Zerstörungen des Krieges folgten Plünderungen. Fast alle Gebäude wurden demoliert, aus Häusern wurde Baumaterial. Agdam sollte für immer unbewohnbar und Teil einer weitgehend menschenleeren Pufferzone zwischen Armenien und Aserbaidschan werden. Auch vom kleinen Imaret-Stadion, wo der Klub fast fünf Jahrzehnte lang gespielt hatte, blieben nur Ruinen. Die Mannschaft aus der Geisterstadt wurde zu einer im Exil. Fortan trug sie nur noch Auswärtsspiele aus.
Neben den über 30 000 Toten vertrieb der Krieg bis zu seinem Ende 1994 rund 350 000 Armenier und 750 000 Aserbaidschaner aus ihrer Heimat. Damit kam dem FK Qarabag eine neue Rolle zu. Nun wärmten sich all jene an ihm, die ebenfalls im Exil waren. Jahrelang trug der Verein seine Heimspiele an wechselnden Orten im ganzen Land aus.
1994 etwa siedelte ihn der Fußballverband in Ali Bayramli an, einer Stadt in Zentral-Aserbaidschan. „Das war ein großer Fehler, die Leute dort wollten uns nicht“, sagt Kerimow. „Sie haben uns als Flüchtlinge abschätzig behandelt und gesagt, dass wir verschwinden sollten. Einige haben uns sogar als Verräter bezeichnet, weil wir Karabach den Armeniern überlassen hätten. Vor allem für meine Mannschaftskameraden, die aus Agdam kamen, war das die schlimmste Beleidigung, die man sich vorstellen kann.“
Ihr Leben bleibt provisorisch
So war es eine Erlösung für den Klub, als er über den Umweg Baku nach Sumgait weiterziehen durfte, wo einige Tausend Flüchtlinge lebten. Noch heute, fast zwei Jahrzehnte nach dem Waffenstillstand, warten fast eine halbe Million Vertriebene aus Nagorny Karabach in behelfsmäßigen Baracken auf einen offiziellen Friedensschluss. Und weil es diesen noch nicht gibt, muss ihr Leben provisorisch bleiben. Denn würden sie sich fest einrichten, so behauptet die Politik ihres Landes, würde man seine Ansprüche in Nagorny Karabach aufgeben.
Fußballfans auf der ganzen Welt lieben die Kämpfer auf dem Rasen, und Aslan Kerimow war einer, der seine Zweikämpfe so entschlossen führte, dass die auf den Tribünen ihn „den Löwen“ nannten. Aus dem scheuen Jungen war längst einer dieser unauffällig verlässlichen Anführer auf dem Platz geworden, einer wie Paolo Maldini oder Phillip Cocu. 1997 kam er mit seiner Mannschaft dem Titel wieder ganz nahe, doch letztlich schloss Kerimows Mannschaft die Meisterschaftsrunde nur als Zweiter ab.
„Der FK Qarabag war Teil meines Lebens geworden“
Dafür durfte die Mannschaft erstmals international spielen, und ihr gelang sogar der erste Sieg einer Mannschaft aus Aserbaidschan im Europapokal, auch wenn sie schließlich im Elfmeterschießen gegen die Finnen von MyPa ausschied.
Doch da hatte Kerimow seinen Klub bereits verlassen. „Der FK Qarabag war zwar Teil meines Lebens geworden, aber ich musste gehen, weil es damals keinen Sponsor und kein Geld mehr gab“, sagt er. So gewann er bei drei anderen Klubs in Aserbaidschan fünf Titel, versuchte sich kurz in der russischen Profiliga, kehrte 2003 aber schließlich zu seinem Klub zurück, nachdem er dort eine Meisterfeier verpasst hatte.
Der zweite Titelgewinn wurde offiziell nie anerkannt
Obwohl, eine richtige Meisterschaft war das nicht. Der FK Qarabag hatte aus Protest gegen die weitverbreitete Korruption im Fußballverband von Aserbaidschan gemeinsam mit den anderen Klubs der ersten Liga eine selbstorganisierte Runde gespielt und als Sieger beendet. Der zweite Titelgewinn nach 1993 wurde offiziell nie anerkannt.
Auch nach seiner Rückkehr ging Kerimows Karriere im Nationalteam weiter, bei seinem Abschied 2008 war er mit 74 Spielen Rekordnationalspieler. Im Januar des gleichen Jahres hatte Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev, Kopf eines autoritären Regimes, ein neues Stadion in Guzanli eröffnet.
Der Ort liegt nur wenige Kilometer von der Demarkationslinie mit Armenien und den Ruinen Agdams entfernt, und im Sommer 2009 begann der FK Qarabag dort seine Heimspiele auszutragen, die sich nun etwas mehr auch so anfühlten. Wobei Kerimow bei Kollegen, die nicht aus der Region stammen, immer um Verständnis für den neuen Standort werben musste. Denn vielen war das Leben in der abgelegenen Region ohne Internetzugang oder andere Möglichkeiten des Zeitvertreibs zu mühselig.
Im Sommer 2009 gewann der FK Qarabag den Landespokal und qualifizierte sich für den Europacup, wo er die größte Sensation der Vereinsgeschichte schaffte. In der ersten Runde der Europa League schalteten sie Rosenborg Trondheim aus Norwegen aus, am Tag genau 16 Jahre nach der Vertreibung aus Agdam. Weil dabei nur ein Ausländer im Team stand, wurde der FK Qarabag von Staatspräsident Aliyev als „Klub der Nation“ gefeiert, obwohl er doch auch ein Opfer des Nationalismus war.
Die Fans warten immer noch auf ein Heimspiel
Kerimow selber jagte indes vor allem weiter seiner verpassten Meisterfeier hinterher, und 2010 sollte es eigentlich so weit sein. Das letzte Spiel der Saison sollte auch das letzte seiner Karriere sein, er wollte als Champion abtreten. Seine Mannschaft brauchte gegen ein fast nur aus Reservisten bestehendes Team von Neftchi Baku nur zu gewinnen. Doch so leicht die Aufgabe war, der FK Qarabag traf einfach nicht, das Spiel endete 0:0. Es gab keine Meisterfeier, und am nächsten Morgen ging Kerimow allein zum Training, er machte einfach weiter.
Doch es reichte nicht. Aslan Kerimow hat in seiner Karriere mehr erreicht als alle Spieler seines Landes, aber er hörte Anfang 2012 mit dem Fußballspielen auf, ohne mit dem FK Qarabag die Meisterfeier von 1993 nachholen zu können. Sein alter Klub spielt nun in Baku. Während die meisten seiner Fans immer noch darauf warten, dass sie eines Tages vielleicht doch einmal wieder ein Heimspiel zu Hause sehen können.