Dem Fußball fehlt in Corona-Zeiten vieles. Am meisten die Gästefans. Eine Liebeserklärung an den Feind im eigenen Stadion.
Nach dem Abpfiff der obligatorische Wettbewerb, wer als erster „Wo ist hier der Puff?“ brüllen kann. Meistens mit nur einem Teilnehmer, der hält sich dann aber für den originellsten Witzbold des Planeten. Ein letzter verächtlicher Blick in das „Scheißstadion“. Nur für das finale Triumphgefühl der Überlegenheit. Dann geht es auf den Heimweg.
Die ganz große Magie einer Auswärtsfahrt liegt in der Rückfahrt. Der Mensch erreicht nirgendwo sonst einen so merkwürdigen Aggregatzustand wie auf einer Auswärts-Rückfahrt. Das Bier ist alle, die Stimmbänder strapaziert, die Endorphine ausgeschüttet, der Geist leer, aber der Tag noch nicht vorbei. Jeder normale Säufer würde zu Bett gehen, für den Auswärtsfahrer kommt das erst in ein paar Stunden in Frage. Das stundenlange Aufeinanderhocken im gleichzeitig verkatert und besoffenen Zustand führt zu den absurdesten Gesprächskonstellationen und Themen. Dummgesoffene Teenager unterhalten sich mit kantenartigen Schlägertypen über Salatdressing, halbstarke Jogginghosenträger sprechen über die Vorzüge von Fielmann-Brillen und Althauer nutzen jede Vorbeifahrt an Regionalbahnhöfen, um von „Backenfutter“ zu berichten, das sie dort einst wahlweise verteilten oder kassierten. Ob das ihre Zuhörer interessiert oder überhaupt Zuhörer existieren ist ihnen völlig egal. Auswärtsfahrten sind wie ein Streitgespräch zwischen Friedrich Nietzsche und Mario Barth. Das Niveau ist ambivalent. Ein Typ mit selbst-gestrickten Schal lallt stundenlang „Wer hat am Ende nichts zu feiern? FC Bayern!“ durch den Zug. Zwei Jugendliche versuchen sich im Schnupftabakkonsum.
„Auswärtsfahrten sind wie ein Streitgespräch zwischen Friedrich Nietzsche und Mario Barth. Das Niveau ist ambivalent.“
Am heimischen Bahnhof noch ein letztes Mal aufbäumen. Auch die Daheimgebliebenen müssen schließlich erfahren, welchem Verein man Leblosigkeit wünscht und starke Gefühle der Ablehnung entgegenbringt. Dann hat auch der Fußballfan seine Ruhepause.
Am 8. März wussten die meisten Fans noch nicht, dass ihre Ruhepause nicht die üblichen 14 Tage, sondern eher ein Jahr dauern würde. Das mag der Leber des einen oder der anderen zu Gute kommen, der Seele aber nicht. Für letztere bleibt nur der Ausblick. Denn irgendwann werden die Gästeblöcke wieder öffnen.
Dann werden wir die gastgebenden Landwirte auffordern, sich auf Grund der eigenen Ankunft auf die Knie zu begeben, dann werden wir der Heimmannschaft beim Einrufen der Mannschaftsaufstellung unterstellen, dass sie alle den selben Rektal-Familiennamen tragen. Dann werden wir die eigene Anwesenheit wieder mit lauten Ausrufen der Freude an die Betonwände der Bahnhöfe der Republik brüllen. Wir werden unseren Hass auf der Heimseite auskübeln und die Heimseite wird Hass über uns auskübeln. Und paradoxerweise werden sich alle darüber freuen. Es ist wunderbar, dass ihr wieder da seid. Wir lieben unseren Feind. Wir haben Gäste so schmerzlich vermisst!