Dem Fußball fehlt in Corona-Zeiten vieles. Am meisten die Gästefans. Eine Liebeserklärung an den Feind im eigenen Stadion.
Wir erinnern uns an den 8. März 2020. Es war der letzte normale Bundesligasamstag. Es war der letzte Samstag, an dem unschuldige Familienausflügler ihren Zug mit randvollen Fußballfans teilten. Der letzte Samstag, an dem verängstigte Eltern versuchten, die Ohren ihrer Kinder vor unflätigen Saufliedern zu beschützen. Der letzte Samstag, an dem diese Kinder ihre Eltern nach der Bedeutung der gerade aufgeschnappten Vulgärsprache fragten. Durch die ganze Republik fuhren Fans von Nord nach Süd, Ost nach West zu ihren Auswärtsspielen. Sie hinterließen vollgepisste Regionalzugtoiletten, ein Meer aus Pfandflaschen und entnervte bis verstörte Mitfahrer. Im Stadion lieferten sie sich verbale Scharmützel mit der Heimseite, auf der Rückfahrt verdauten sie bittere Niederlagen. Jahrelang wochenendliche Normalität, heute Nostalgie.
Gästefans haben dem Fußball über Jahrzehnte den besonderen Reiz verliehen. Die Anwesenheit der Gegenseite schenkte die Gewissheit, selbst zu den Guten zu gehören. Die Gegenseite potenzierte die eigenen Emotionen. Wir gegen die, gut gegen böse, schwarz gegen weiß – beim Fußball war das Leben bis März ein einfaches.
Das Gefühl, als Minderheit für die richtige Sache einzutreten ist besonders im Gästeblock spürbar. Auswärts potenzieren sich die Emotionen eines Fußballspiels. Auswärts ist wie Heim, nur extremer. Auswärts ist Seelenurlaub. Auswärts strengt an. Auswärts stinkt. Nach Bier, Rauch und Schweiß. Auswärts ist das irrationalste Hobby der Welt. Und für viele kein Hobby, sondern Zwang. (Auch wenn es ein paar Fahrten gibt, bei dem dieser Zwang auf eine sehr, sehr harte Probe gestellt wird!)
Auswärtsfahren heißt im Morgengrauen am Bahnhof stehen. Auswärtsfahren heißt viel zu früh das erste Bier zu trinken. Wer am Wochenende früher aufsteht als unter der Woche, der meint es ernst mit seinem Verein. Im Gästeblock ist man unter Gleichgesinnten, kein Platz für Modefans. Auf der Zugfahrt gibt es statt des heimspielüblichen Auftaktbieres einen auswärtsspielüblichen Auftaktkasten. Auch die intelligentesten Fans neigen zur geistigen Talfahrt. Der ein oder andere Halbstarke übertreibt. Kotzt auf die Schuhe eines Mitfahrers. Umstehende finden das merkwürdigerweise auch noch lustig.
Ein besonders großartiger Moment bei Auswärtsfahrten ist die Einfahrt am Heimbahnhof. Nirgendwo macht Arroganz so viel Spaß wie bei der Selbsterhebung bei der Ankunft. Alles am andern Verein ist kacke. Der Bahnhof die letzte Provinzhütte, sämtliche Gebäude auf dem Weg zum Stadion sind hässlich, das Stadion selbst ist das Allerletzte, der Stadion-DJ komplett unfähig und der heimische Anhang der peinlichste Haufen, der je eine Blockfahne aufgehängt hat. Veteranen suggerieren ihre Erfahrung mit Sätzen wie: „Fehlt nur noch die Starkstromleitung und das Scheiß-Ding hier wäre genauso hässlich wie in Paderborn.“
Die Stimmung ist in den ersten zehn Minuten gut, dann fällt das erste Tor für die Gastgeber. Der Gesang im eigenen Block verstummt. Der Rest des Stadions bebt, Tormusik auf Dorfkirmes-Niveau ertönt. Halbstarke besteigen den Zaun und strecken ihre Mittelfinger ins weite Rund. Kraftausdrücke unterbrechen die Stille im lethargischen Gästeblock. Unreflektiert und ohne schlechtes Gewissen Schmähungen an fremde Köpfe zu werfen, wirkt befreiend und verleiht die nötige Kraft, um unter der Woche im Büro freundlich zu bleiben. Selbst wenn der Chef die Schimpfwörter eigentlich viel eher verdient hätte als der junge Mann mit der unvorteilhaften Fanshop-Cappy und dem etwas zu engen und mit seinem eigenen Vornamen beflockten Trikot der Heimmannschaft, der, beladen mit drei Bier und einer Cola, zu seinem Pech und ohne böse Absicht etwas zu nah am Gästeblock vorbeiläuft. Er kann damit leben, schließlich gewinnt sein Team.