Sechs Tore in neun Pflichtspielen: Fast unbemerkt reift Munas Dabbur in Hoffenheim zum Hoffnungsträger. Aber mit besonderen Rollen kennt er sich schon sein Leben lang aus.
Im März 2019 – zehn Monate vor seinem Wechsel zur TSG Hoffenheim – schoss Munas Dabbur ein Tor für Israel gegen Österreich. Nach dem 4:2‑Sieg in diesem EM-Qualifikationsspiel sagte man dem Stürmer, dass er einen Gratulationsanruf von Benjamin Netanyahu erhalten würde, dem Regierungschef seines Landes. Dabbur bat Familie und Freunde, die Leitung freizuhalten, und wartete. Netanyahu rief derweil Eran Zahavi an, den Schützen der anderen drei Tore, und beglückwünschte ihn zu einer „Leistung von nationaler Bedeutung“. Dabbur dagegen wartet noch heute. „Am Ende ist nichts passiert“, sagte er später dem staatlichen israelischen Fernsehsender Kan TV mit einem bitteren Lächeln.
Es war kein Versehen, sondern Politik. Etwa zwanzig Prozent der Einwohner des jüdischen Staates sind arabische Israelis. Der 1992 geborene Dabbur ist einer von ihnen. Wenn der Ministerpräsident einen Palästinenser nicht anruft, dann hat das nichts mit Vergesslichkeit zu tun, sondern mit den Widrigkeiten, denen Dabbur und andere prominente arabische Israelis jeden Tag ausgesetzt sind. Dabei kommt gerade dem Fußball eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt im Land zu. An jenem Tag spielten außer Dabbur noch vier andere Muslime für Israel. In allen Qualifikationspartien lief eine gemischte Elf unter dem Kapitän Bibras Natcho auf, einem Tscherkessen. (Die Tscherkessen sind ein muslimisches Volk, das ursprünglich aus dem Kaukasus stammt.) Dass der Sport die Gesellschaft eint, ist keine geringe Leistung in einem Land, dessen Regierungschef oft den Eindruck erweckt, sie spalten zu wollen.
Bis 1966 lebten arabische Israelis unter Kriegsrecht, doch dann bekamen sie die gleichen Bürgerrechte wie die jüdischen Einwohner des Landes, ganz im Gegensatz zu jenen Palästinensern, die im Westjordanland und Gazastreifen wohnten. Sie waren nach dem Sechstagekrieg von 1967 praktisch rechtlos und wurden von den israelischen Besatzern unterdrückt. (Seit 2007 wird Gaza von der Hamas kontrolliert.) Das ist natürlich nur eine grobe Zusammenfassung, denn nach siebzig Jahren Konflikt sind alle Dinge in Israel sehr kompliziert. So bezeichnen sich die arabischen Israelis selbst als „Araber von 1948“, was sich auf das Jahr bezieht, in dem die britische Armee Palästina verließ und David Ben-Gurion den Staat Israel ausrief. Sie sind Teil des palästinensischen Volkes und der arabischen (und größtenteils muslimischen) Nation, doch sie sind nach ihrem Reisepass, ihrem Wohnort und nicht selten auch nach ihrem Selbstverständnis Israelis.
Nach 1948 spielten arabische Vereine in den unteren israelischen Ligen Fußball, doch erst 1996 stieg einer von ihnen in die höchste Spielklasse auf, der inzwischen aufgelöste Klub Hapoel Taibe. Das Team sah sich offenem Rassismus ausgesetzt, vor allem bei Spielen gegen Beitar Jerusalem, dessen Fans „Tod den Arabern“ riefen und das auch so meinten. Doch nach und nach wurden arabische Mannschaften in der ersten Liga Normalität. Ein Klub wie Bnei Sachnin ist dort Stammgast und gewann 2004 sogar den Pokal. Heute findet man bei fast allen Vereinen arabische Spieler (nur Beitar Jerusalem verweigert sich noch immer). Seitdem Araber auch für die Nationalelf auflaufen, sind Religion und Abstammung im israelischen Fußball kein Thema mehr. Zumindest auf den ersten Blick. Denn arabische Israelis haben weiter Hürden zu überwinden, von denen jüdische Spieler nichts wissen.
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Munas Dabbur kommt aus einer wohlhabenden Familie in Nazareth, der größten arabischen Stadt in Israel. Er begann mit dem Fußball beim Klub Maccabi Ahi Nazareth, dessen Vorsitzender sein Vater war, und erregte bereits in jungen Jahren das Interesse großer Vereine aus Israel und sogar dem Ausland. Doch als Munas 17 war, schlug das Schicksal zu. Sein Vater Kasam kam mit nur 49 Jahren bei einem Autounfall ums Leben, und Dabbur fiel in ein tiefes Loch. „Am Tag vorher hatte er noch gesehen, wie ich mit Ahi Nazareth die Jugendmeisterschaft gewann, in einer Saison, in der ich 69 Tore schoss“, sagte er einem israelischen Reporter. „Samstag haben wir zusammen gefeiert, Sonntag war er tot. Fast wäre ich daran zerbrochen. Ich wollte nicht mehr spielen, ich hatte das Gefühl, dass mir ohne meinen Vater der Antrieb fehlt. Einen Monat bin ich nicht zum Training gegangen, dann hat mich meine Mutter überzeugt, den Fußball nicht aufzugeben.“
In seiner letzten Saison als Jugendspieler schoss Dabbur so viele Tore, dass er vor den Partien die Schiedsrichter fragte, ob er jedes Mal ausgiebig jubeln dürfte oder ob man ihn dann irgendwann verwarnen würde. Danach nahm er ein Angebot von Maccabi Tel Aviv an. Seitdem hat Dabbur in der Schweiz und Österreich gespielt, in Spanien und nun in Deutschland. Doch den Gang von Nazareth nach Tel Aviv bezeichnet er bis heute als „den härtesten und radikalsten Einschnitt. Ich kannte niemanden, ich sprach mit niemandem. Ich spielte immer nur bis tief in die Nacht auf meiner Playstation.“ Der Kulturschock kam auch daher, dass Dabbur nun nicht mehr ein Araber unter vielen war. „In meinem ersten Jahr bei Maccabi gab es ein paar unschöne Erlebnisse mit Fans, die Araber und Muslime hassen“, sagt er. „Die meisten Anhänger haben mich von Anfang an akzeptiert und unterstützt, aber es gab ein paar, die mich wegen meiner Herkunft ablehnten.“ Dabbur bat Maccabi um die Freigabe und sagte dem Klub, er würde lieber für ein arabisches Team in den unteren Ligen spielen. Einfach nur Tore schießen und ab und zu mal aufsteigen. „Ich sagte meiner Mutter, dass ich wieder aus Tel Aviv weggehen würde“, erinnert sich Dabbur. „Am nächsten Tag sprach mein Großvater mit mir. Er sagte: ‚Wenn du den Vertrag nicht erfüllst, bist du nicht mehr mein Enkel.‘ Also blieb ich zunächst.“
„Samstag haben wir zusammen gefeiert, Sonntag war er tot“
Einem anderen arabischen Spieler, dem eleganten Maharan Radi, erging es noch schlimmer. Entsetzt sah Dabbur, wie eine gewaltbereite und rassistische Ultra-Gruppe von Maccabi den Profi zum Feindbild erkor. „Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn dich deine eigenen Fans angreifen“, sagte er später der Website One. „Man gibt alles für sie und das Team, man will, dass sie glücklich sind, und am Ende beschimpfen sie dich. Es wird Zeit, dass das aufhört. Es ist eine Schande und ein Unglück für den Fußball. Es gab Tage, an denen ich ein Tor schoss und die Leute mir trotzdem Schimpfwörter zuriefen. Aber Maharan und ich versuchten immer, das Positive zu sehen. Die Mehrheit des Publikums stand hinter uns, so haben wir alle Hindernisse überwunden.“
Anfang 2014 wechselte Dabbur für 400 000 Euro nach Europa, zu Grasshoppers Zürich. Zwei Jahre später war er Salzburg schon rund fünf Millionen Euro wert. Es war gut angelegtes Geld für Red Bull, denn Dabbur wurde zweimal Torschützenkönig der österreichischen Bundesliga. Für 17 Millionen sicherte sich der FC Sevilla 2019 die Dienste des Angreifers, doch in Spanien geriet seine bis dahin so rasante Karriere ins Stocken. Dabbur bekam kaum Einsätze und ergriff daher im Januar die Chance, nach Hoffenheim zu gehen.
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Zu diesem Zeitpunkt war er längst fester Bestandteil der Nationalelf, was trotz seiner Leistungen nicht selbstverständlich war und viel mit Andreas Herzog zu tun hatte, bis zum Sommer 2020 Nationaltrainer von Israel. „Wenn ein Einheimischer die Mannschaft trainiert hätte, wären niemals fünf oder sechs Araber auf dem Rasen“, glaubt Rifaat Turk, der in den Siebzigern als erster arabischer Nationalspieler Geschichte schrieb. Herzog hingegen kümmerte sich nicht um solche Regeln. Bald reisten die arabischen Spieler voller Freude zu Länderspielen an und fühlten sich im Team willkommen und akzeptiert. Doch im Umfeld der Nationalelf herrscht oft eine angespannte Atmosphäre. Niemand schreibt oder sagt, dass zu viele Nicht-Juden auf dem Platz stünden, das läuft subtiler ab, wie der Streit um die „Hatikwa“ zeigte.
Kapitän Natcho, der in der israelischen Armee gedient hat, singt jene Nationalhymne nicht mit. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz für muslimische Israelis, die sich durch das Lied nicht repräsentiert fühlen. Der Ex-Spieler und heutige Moderator Eyal Berkovic griff das Thema in seiner Radiosendung auf und sagte zu Natcho: „Sie sind ein großartiger Spieler, aber der Kapitän sollte die Hymne singen. Wenn er es nicht kann, darf er nicht Kapitän sein.“ Diese Einstellung ist weit verbreitet, selbst der Sportminister schaltete sich in die Debatte ein und unterstützte Berkovic. „Die arabischen Spieler sind stolz darauf, für die Nationalelf zu spielen“, sagte Dabbur zu dieser Frage. „Sie werden alles für den Erfolg tun. Aber sie können die Hymne nicht singen. Wir sollten das nicht jedes Mal zum Thema machen.“
„Die arabischen Spieler sind stolz darauf, für die Nationalelf zu spielen“
Dass auch Teile der arabischen Welt sehr misstrauisch gegenüber Dabbur und den anderen muslimischen Israelis eingestellt sind, zeigte sich Ende 2018 durch Fake News. Es gab Berichte, nach denen Liverpool Interesse an Dabbur habe, woraufhin Mohamed Salah angeblich bei Jürgen Klopp vorstellig wurde und ihm sagte, er wollte nicht mit einem Israeli spielen. Nichts daran stimmte, trotzdem griffen arabische Journalisten das Gerücht auf und vertraten Salahs vermeintliche Position. Für einige arabische Fans sind die muslimischen Israelis eben in erster Linie Israelis; für einige Israelis dagegen vor allem Araber. „Wir können es niemandem recht machen“, drückte Dabbur selbst das mal aus.
Anfang Februar führte sich der Stürmer aus Nazareth mit zwei Toren gegen den FC Bayern im Pokal gut bei Hoffenheim ein, doch nur wenig später zog er sich eine schwere Knieverletzung zu, dann kam auch noch Corona. Aber Munas Dabbur ist es gewohnt, mit Widrigkeiten umzugehen und aus schwierigen Umständen das Beste zu machen. Im Lockdown nahm er an einem Spielkonsolenturnier teil und holte den ersten Platz, dabei schlug er im Halbfinale sogar einen E‑Sport-Profi. Die harten ersten Wochen damals in Tel Aviv waren also doch zu etwas gut.