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Dieses Por­trait erschien erst­mals im August 2015 in unserem 11FREUNDE Son­der­heft zur Bun­des­liga-Saison 2015/16. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhält­lich.

Der Kellner im Taj Mahal auf der Schweizer Straße in Frank­furt reicht ihm mit einer ele­ganten Hand­be­we­gung die in Kunst­leder ein­ge­bun­dene Spei­se­karte, und Alex Meier legt sie unge­sehen zur Seite. Er war schon oft hier und weiß, was er zu Abend essen will: Mango-Curry oder Chi­cken Chilli. Die beiden Gerichte in dem indi­schen Restau­rant schme­cken ihm vor­züg­lich, warum sollte er noch etwas anderes pro­bieren? Wenn ich etwas Gutes gefunden habe, reicht mir das. Dann muss ich nichts Neues ver­su­chen.“

Er lacht kurz, weil er selbst merkt, dass er zwar nur etwas über seine Essens­vor­lieben sagen wollte, aber in den zwei Sätzen alles über seine Lebens­ein­stel­lung steckt: Für immer Chi­cken Chilli, für immer Ein­tracht Frank­furt. Bewährtes will er fest­halten, und so geht Alex Meier, Tor­schüt­zen­könig der zurück­lie­genden Bun­des­li­ga­runde, mit 32 in seine zwölfte Saison für die Ein­tracht. Ich bin in der Nähe von Ham­burg auf­ge­wachsen“, sagt er, aber so langsam bin ich ein Frank­furter Jung’.“

So langsam bin ich ein Frank­furter Jung’.“

Instinktiv würde man ja sagen, dass es einen wie ihn eigent­lich gar nicht mehr gibt. Einen mit sol­cher Ver­eins­treue. Der Pro­fi­fuß­ball führt uns die Schnell­le­big­keit unserer Zeit im Extremen vor Augen, jedes halbe Jahr wech­seln Spieler in Scharen die Klubs, heute Mainz, morgen Moskau. Bei vielen Fans, die ja immer bleiben, hat das eine Sehn­sucht nach dem Früher aus­ge­löst, in Frank­furt etwa nach Höl­zen­bein, Gra­bowski und Nickel oder nach den Neun­zi­gern mit Bin­de­wald, Binz und Weber.

Alles Spieler, die prak­tisch ihre gesamte Kar­riere bei einem Verein ver­brachten. In Wahr­heit wech­selten die treuen Profis der Ver­gan­gen­heit die Ver­eine nicht, weil das nicht so leicht mög­lich war wie heute. Und, das ist die über­ra­schen­dere Erkenntnis, es gibt wider den glo­balen Trend auch heute in fast jedem Pro­fi­verein den lokalen Helden, der wie Alex Meier lieber bleibt als wan­dert.

In einem Verein zu Hause

Beim Blick auf die domi­nie­renden Teams der jüngsten Jahre lässt sich sogar ver­muten, dass die ver­meint­lich alt­mo­di­sche Ver­eins­treue ein höchst moderner Erfolgs­faktor ist. Die großen Sie­ger­teams von heute sind oft um einen Kern von Profis gewachsen, die schon lange im Verein sind: der FC Bar­ce­lona mit Xavi, Andrés Iniesta und Lionel Messi, der FC Chelsea mit John Terry, Frank Lam­pard und Petr Cech, der FC Bayern mit Philipp Lahm, Bas­tian Schwein­steiger und Thomas Müller. Boris Groy­sberg inter­es­siert sich zwar nicht für Fuß­ball, aber er kann dieses Phä­nomen erklären. Der Wirt­schafts­pro­fessor aus Har­vard lehrt seit Jahren, dass Unter­nehmen zu besessen davon seien, die besten Talente ein­zu­kaufen. Groy­sberg unter­suchte in einer Studie die füh­renden Invest­ment­banken der Wall Street und stellte fest, dass die Per­for­mance von Top­ban­kern sank, sobald sie die Firma wech­selten. Groy­sberg schloss daraus, dass die Arbeits­leis­tung auch von dem Gefühl abhängt, sich sicher und geborgen zu fühlen, von der Gewiss­heit, die Methodik und die Struktur der Firma zu kennen. In einer Zeit, in der – nicht nur im Fuß­ball – die beruf­liche Ver­än­de­rung grund­sätz­lich als hip gilt, ver­gessen viele schnell, welche Kraft aus dem Gefühl ent­steht, in einem Verein zu Hause zu sein.

Das Zuhause für Alex Meier wurde Ein­tracht Frank­furt zufällig. Mit 21 Jahren war er ein schlak­siger Junge mit feinster Technik am Ball, von dem aber nie­mand so recht wusste, ob er nun ein Stürmer oder ein offen­siver Mit­tel­feld­spieler war. 2004 bot ihm die Ein­tracht als dama­liger Zweit­li­gist einen Ausweg, als er beim Ham­burger SV mit der Selbst­fin­dung nicht weiter kam. Damals schien der Transfer ein Ver­eins­wechsel wie hun­derte in jeder Saison zu sein. Und dass Alex Meier elf Jahre später immer noch bei der Ein­tracht ist, liegt auch daran, dass er in den ersten Frank­furter Jahren recht schwan­kend spielte. Die großen Offerten, die ihn viel­leicht in Ver­su­chung gebracht hätten, gingen jeden­falls nicht ein. Aber sein Ver­weilen in Frank­furt ver­deut­licht eben auch, dass er eine sel­tene mensch­liche Gabe besitzt: Das zu schätzen, was er hat. Seit 13 Jahren fährt Alex Meier auch an den­selben Ort in den Urlaub, nach Miami. Ist doch schön dort.

Pidi, sein bester Kumpel, kommt mit etwas Ver­spä­tung ins Taj Mahal, blond­ge­färbte Haare zu dunkler Haut, ein Nasen­ring und eine Wärme in den Augen, die ihn sofort sym­pa­thisch macht. Pidi führt in Berlin eine PR-Agentur für Mode­la­bels, aber zu jedem Heim­spiel der Ein­tracht kommt er nach Frank­furt, um Alex zu sehen. Jetzt staunt er erst einmal: Moment mal, ihr esst Mango-Curry und Chi­cken Chilli? Das Gleiche, was wir immer nehmen. Hast du die Bestel­lung über­nommen, Alex?“

Einmal in elf Jahren in Frank­furt hat Alex Meier über­legt, ob er etwas anderes nehmen soll. Vor der Ver­trags­ver­län­ge­rung im Sommer 2014 habe ich mal dar­über nach­ge­dacht zu gehen.“ In den Zei­tungen stand, der HSV, Klub seiner Jugend, wolle ihn gerne zurück­holen, und die Ein­tracht bockte, einem über Drei­ßig­jäh­rigen noch einen Drei­jah­res­ver­trag vor­zu­legen. Ich habe dann aber – auch wenn es sich blöd anhört – auf mein Herz gehört und bin geblieben: Denn hier fühle ich mich wohl.“ Auch wenn es sich blöd anhört“ – den Ein­schub fügt er ein, weil er pathe­ti­schen Worten genauso miss­traut wie großen Gesten.

Als er am letzten Spieltag der Saison 2014/15 im Sta­dion die Tor­schüt­zen­ka­none für die Fans und Foto­grafen in die Luft halten sollte, senkte Alex Meier die Tro­phäe ganz schnell wieder. Ver­legen stand er da, wäh­rend ihn 50 000 mit dem Alex Meier Fußballgott“-Lied fei­erten: Er trifft, wie er will, sogar mit dem Zopf, Fuß­ball­gott, Fuß­ball­gott!“ Abends stieß er mit dem Vor­stands­vor­sit­zenden der Ein­tracht, Heri­bert Bruch­hagen, auf seine 19 Tore an. In Bruch­ha­gens Glas war Rot­wein, Alex Meier fei­erte mit Cola. Er trinkt nie Alkohol. Schmeckt ihm nicht.

Wann flippt er mal aus? Alex Meier über­legt lange. An der Play­sta­tion kannst du nicht ver­lieren!“, sagt Pidi. Ja, weil du immer meine Teams und Tak­tiken beim NBA-Bas­ket­ball 2K15 kopierst und mich dann schlägst, da bin ich natür­lich sauer.“ Ich sag’ jetzt nichts. Es ist dein Inter­view.“ Also, richtig auf­regen, das gibt’s eigent­lich nicht bei mir“, sagt Meier.

Sein Rede­fluss wird auch mit 32 von Schüch­tern­heit gebremst, und wenn er etwas erzählt, bleibt er nahezu ges­tenlos. Doch gerade für seine Sprö­dig­keit wird er in Frank­furt geliebt. Sie lässt ihn geerdet erscheinen, weil sie mit einer großen Unauf­ge­regt­heit und Höf­lich­keit ein­her­geht. Alex Meier ist der ein­zige Profi in Frank­furt, der an Trai­nings­tagen regel­mäßig auf der Geschäfts­stelle vor­bei­schaut, um den Sekre­tä­rinnen oder dem Spiel­ana­lysten Hallo zu sagen. Findet er selbst­ver­ständ­lich. Er kennt doch viele schon seit Jahren.

Es dauert immer ein biss­chen, bis der Alex redet.“

Auch bei Bernd Höl­zen­bein, dem Frank­furter Welt­meister von 1974 und heu­tigem Scout, kehrt er gerne im Büro ein. Vor drei Minuten war der Alex da!“, sagt Höl­zen­bein ein paar Tage später am Telefon. Das Gespräch habe dann aber wie immer er mit Fragen in Gang bringen müssen: Was machst du wegen deiner Knie­ver­let­zung in der Reha? Wann bist du wieder fit? Es dauert immer ein biss­chen, bis der Alex redet.“ Wie alle hat Höl­zen­bein so ein Gefühl, dass der Alex klasse ist, ver­läss­lich, normal. Wenn ich ein Trikot von ihm für einen Bekannten brauche, habe ich es am nächsten Tag“. Aber dann fällt Höl­zen­bein auf, dass er trotz ihrer regel­mä­ßigen, netten Plau­de­reien gar nicht so viel von ihm weiß: Er ist ja so ruhig“.

Alex Meiers Finger aller­dings ver­raten, dass auch er seine ner­vösen Momente hat. Die Haut ist abge­knib­belt. Zu Beginn der ver­gan­genen Saison setzte ihn Ein­tracht-Trainer Thomas Schaaf auf die Ersatz­bank. Im Trai­nings­lager auf Nor­derney schrie er Meier an, weil der den Ball nicht schnell genug nach vorne spiele. Hatte Schaaf die Absicht, die Hier­ar­chie zu bre­chen, wie man das nennt und was viele Trainer unsin­ni­ger­weise an einem neuen Ort machen wollen?

Alex Meier hat an den Fin­gern geknib­belt und nie gesagt, wie sehr ihn die Abkan­ze­lungen trafen. Später wurde er trotzdem Tor­schüt­zen­könig, obwohl er wegen einer Knie­ver­let­zung im April nur 26 Par­tien bestreiten konnte. Schaafs Idee, Alex Meier als vor­dersten Stürmer erst­mals ganz nah am Tor spielen zu lassen, hatte einen gehö­rigen Anteil an diesem Erfolg.

Aber dass die Saison trotz eines ver­söhn­li­chen neunten Bun­des­liga-Rangs in Frank­furt mit einer Ent­frem­dung des Trai­ners endete und Schaaf schließ­lich zurück­trat, hatte seinen Ursprung in dem Ver­such, Meiers Posi­tion zu stutzen. Schon damals begann Schaaf, das Ver­trauen der Mann­schaft und des Umfelds zu ver­lieren. Alex Meier hat eine große Haus­macht, ohne sich je darum bemüht zu haben.

Mit­spieler und Jour­na­listen waren instinktiv gegen den Trainer gestimmt, als er den treuen Meier angriff. Ein Mit­spieler erzählt, dass Schaaf dann auch noch das pri­vate Zusatz­trai­ning nach dem Mann­schafts­trai­ning verbot, weil die Spieler sich lieber mit voller Kraft dem rich­tigen Trai­ning widmen sollten. Alex Meier musste auch das als Brüs­kie­rung ver­stehen. Er hatte seine gesamte Kar­riere hin­durch nach dem Mann­schafts­trai­ning noch alleine Tor­schüsse geübt und sieht im Zusatz­trai­ning, in der per­ma­nenten Wie­der­ho­lung, die Basis seines phä­no­me­nalen Innen­rist­schusses.

Bernd Höl­zen­bein, der Welt­meister-Stürmer, wird enthu­si­as­tisch, wenn er Meiers Schuss­technik beschreibt: Er zielt ja absicht­lich zwei Meter neben das Tor! Des­halb springt der Tor­wart spät los. Aber mit dem Innen­rist hat Alex dem Ball so viel Effet gegeben, dass er sich genau neben dem Pfosten ins Tor dreht.“ Gut 70 Pro­zent seiner Tore schießt Alex Meier so: mit rechts, per Innen­rist. Seine Krö­nung als Tor­schüt­zen­könig ist der Tri­umph eines Fuß­bal­lers, der all seine Schwä­chen nichtig werden ließ, weil er eine Stärke auf ein­zig­ar­tige Art per­fek­tio­nierte.

Den prä­zisen Innen­rist­schuss hat ihn sein Vater gelehrt. Er hat gesagt: ›Bis 20 Meter vor dem Tor musst du gar nicht fest schießen, solange der Schuss plat­ziert ist, ist er immer drin‹“. Wenn sein Vater von der Arbeit in einer Bau­firma nach Hause kam, ging Alex mit ihm fast jeden Tag auf den Bolz­platz in Buch­holz, 20 Kilo­meter vor Ham­burg. Ich habe alles mit meinem Vater geübt.“ Das war gut, denn in den neun­ziger Jahren trai­nierten Kinder in den Ver­einen bloß dreimal die Woche nach der Schule. Die Tor­jä­ger­ka­none hat er seinem Vater und der Mutter mit­ge­geben. Er braucht sie nicht in Frank­furt, die Eltern können sie, wie alle Tro­phäen, in seinem Kin­der­zimmer in Buch­holz auf­stellen. Wobei, ich habe ja sonst eigent­lich gar keine Tro­phäen. Außer von irgend­wel­chen Hal­len­tur­nieren als D‑Jugendlicher.“

Immer schön weiter Tore schießen!“

Es ist Zeit auf­zu­bre­chen, und eine Rent­nerin vom Neben­tisch im Taj Mahal ruft ihm in breitem Hes­sisch zu: Und immer schön weiter Tore schießen. Darauf lege ich größten Wert.“ – Das wird leider etwas dauern mit den Toren“, mur­melt Alex Meier zurück, und wie so oft bei ihm ist nicht klar, war das nun eine wort­karge Ant­wort oder sein tro­ckener Humor. Er wird nach seinem Riss der Patel­la­sehne im Knie die ersten Wochen der neuen Saison ver­passen.

Beim kurzen Spa­zier­gang die Schweizer Straße hin­unter sitzen die Leute in der milden Som­mer­luft in Gar­ten­re­stau­rants. Ich finde Frank­furt super!“, ruft Alex Meier spontan aus. Im Moment kann ich mir nicht vor­stellen, irgend­wann mal weg­zu­gehen.“ Sein Traum ist es, bis 40 zu spielen, wenn die Ein­tracht ihm dann einen anderen Job anböte, warum nicht. Er hat eine große Prä­senz auf der Straße, 1,96 Meter groß, lange blonde Haare, dazu der mus­ku­löse Körper. Nach einer Ver­let­zung 2008 ent­deckte er den Fit­ness­raum für sich und über­trieb es so, dass ihm der dama­lige Trainer Fried­helm Funkel Kraft­raum­verbot erteilte. Ein Mann ruft Meier aus dem Auto zu, er solle nicht im T‑Shirt rum­laufen, er erkälte sich noch. Was hier seit drei Jahren mit Alex abgeht“, sagt Pidi: Vor zehn Jahren stand ich mit Alex in Frank­furt noch in der Schlange einer Disko und der Tür­steher ließ uns nicht rein.“

Nun steht Meier an einer roten Ampel und ruft einem Teen­ager-Mäd­chen zu: Es ist rot!“ Das Mäd­chen geht, ohne ihn zu beachten. Weit und breit ist kein Auto zu sehen. Alex Meier wartet, bis es Grün wird und geht.