Tristesse regierte bei der EM 1980 in Italien. In leeren, maroden Stadien bekriegten sich acht Mannschaften mit Betonfußball. Die DFB-Elf war der einzige Lichtblick.
Die Anleitung zum Glücklichsein kam von Uli Stielike. Seit die Maschine in Rom abgehoben war, sang der schnauzbärtige Libero: „Sie müssen nur den Nippel durch die Lasche ziehen und mit der kleinen Kurbel ganz nach oben drehen.“ Die letzten Teamkollegen, die dem Schlaf an diesem Montagmorgen noch trotzen konnten, stimmten müde mit ein.
Manfred Kaltz kühlte seinen geschwollenen Knöchel. Kein Resultat der umkämpften Finalpartie gegen Belgien, sondern die Folge eines Sprungs über die Hotelmauer, als er mit sechs Mitspielern nach dem Finale noch zu einem nächtlichen Streifzug durch die Straßen von Rom ausgebüxt war. Hansi Müller hatte bis zum Morgengrauen gefeiert und war in einen traumlosen Schlaf gefallen. Nur Bernd Schuster strich sich ungeduldig durch die Mähne und sehnte sich der Landung entgegen. Jetzt war es langsam auch gut mit dem Nummer-1-Hit von Mike Krüger, den der volksliederfahrene Stielike in Endlosschleife trällerte.
Ausfälle von Klaus Fischer und Rainer Bonhof kompensiert
Die deutsche Mannschaft kehrte nach knapp zwei Wochen in Italien als Europameister zurück. Dem 53-jährigen Coach Jupp Derwall war es gelungen, ein junges Team mit einem Durchschnittsalter von 24,2 Jahren zusammenzustellen, das für die triste Vorstellung der DFB-Elf zwei Jahre zuvor bei der WM in Argentinien Wiedergutmachung leistete.
Die Ausfälle von Angreifer Klaus Fischer (Beinbruch) und des Mittelfeldstrategen Rainer Bonhof (Achillessehne) waren kompensiert worden. Derwall benötigte für den Titelgewinn noch nicht einmal das bewährte Erfolgsrezept der Blockbildung in der Stammelf. Selten zuvor war ein deutsches Team so facettenreich gewesen.
„Kopfballungeheuer“ Horst Hrubesch hatte den Schalker Fischer standesgemäß im Sturmzentrum vertreten. Mit dem introvertierten Kölner Schuster war ein neuer Stern aufgegangen, der die Grazie und Effektivität von Günter Netzer und Franz Beckenbauer auf sich zu vereinigen schien.
Auch sonst trug die charakterliche Vielfalt im Kader fast romanhafte Züge: „Ennatz“ Dietz aus Duisburg war ein einfühlsamer Kapitän, der den Brauch einführte, bei dem sich die Spieler vor dem Anpfiff in der Kabine an den Händen fassten und gelobten: „Alle für einen, einer für alle!“ Im Tor ersetzte Toni Schumacher den meniskusgeschädigten Norbert Nigbur – und ließ sich die Nummer eins auch nicht mehr streitig machen: Als ihm beim Abschlusstraining ein Mitspieler auf die Hand trat, verheimlichte er die Verletzung und lief im Finale mit gebrochenem Mitteldhandknochen auf.
Im defensiven Mittelfeld feierte der kantige Pfälzer Hans-Peter Briegel seinen Durchbruch, den die italienische Presse zärtlich „Il Bisonte“ („Der Bison“) taufte und dessen berserkerhafte Züge Belgiens Trainer Guy Thys nach dem Endspiel zu folgender Aussage anstifteten: „Gegen diese deutschen Panzer habe ich keinen Bunker.“ Und im offensiven Mittelfeld kickte der mondäne Lebemann Hansi Müller, der vor seiner Profilaufbahn mal den vierten Platz bei der Wahl zum „Bravo-Boy des Jahres“ belegt hatte.
„Eine große Fußballnation muss es sein“
So schillernd dieser Kader auch war, so trist waren die Begleitumstände, die ihn in Italien erwarteten. Die UEFA hatte sich entschieden, die Endrunde von vier auf acht Mannschaften aufzustocken. Die Euro sollte mehr Bedeutung erlangen und sich wirtschaftlich besser auszahlen. Doch welches Land sollte den Zuschlag für die Ausrichtung bekommen?
Der italienische UEFA-Präsident Artemio Franchi forderte: „Eine große Fußballnation muss es sein.“ England kam wegen seines Hooligan-Problems nicht in Frage. Griechenland fehlte es an Wirtschaftskraft, die Niederlande schienen flächenmäßig zu klein und Deutschland war erst sechs Jahre zuvor Gastgeber der WM gewesen. Spanien stand bereits als Ausrichter der Titelkämpfe 1982 fest. Übrig blieb Italien.