Am Ende wird immer ein Verein aus Istanbul Meister. Oder? Nun, momentan führt der anatolische Klub Sivasspor die Tabelle der Süper Lig an – mit einem Team von Unbekannten. Mittendrin: Erdogan Yesilyurt aus Euskirchen.
Erdogan Yesilyurt, die türkische Zeitung Daily Sabah nennt Sivasspor das „Liverpool der Türkei“. Passt das?
Da ich gerne Liverpool-Spiele schaue, gefällt mir der Vergleich. Allerdings muss man ehrlich sagen: Die aktuelle Formkurve und der Spielstil ähneln sich vielleicht, qualitativ gibt es aber große Unterschiede.
Das heißt, auch Sivasspor spielt starkes Gegenpressing?
Ja, und das ist sehr außergewöhnlich in der Türkei.
Warum?
Normalerweise spielen so nur die drei großen Istanbuler Teams Galatasray, Besiktas und Fenerbahce. Alle anderen Teams reagieren und warten ab.
Warum ist Ihr Trainer Riza Calimbay mutiger als andere?
Er ist ein sehr erfahrener Mann, hat als Spieler über 500 Mal für Besiktas gespielt und arbeitet seit 20 Jahren als Trainer. Er weiß, wie wichtig der Teamgeist ist, um eine gute Taktik umzusetzen. Er behandelt alle Spieler gleich – den Stammspieler genauso wie den fünften Ergänzungsspieler. Auch das ist außergewöhnlich in der Türkei.
Weil es sonst festere Hierarchien gibt?
Ich habe es selbst erlebt, dass Trainer nur mit den ersten elf Spielern sprechen und die anderen ignorieren. So etwas gibt es bei Sivasspor nicht, wir fühlen uns gleichberechtig, als eine Mannschaft. Vielleicht ist es ein Vorteil, dass wir keinen Megastar im Kader haben.
„Vermutlich verdienen bei uns alle Spieler zusammen so viel wie Falcao.“
Sie meinen Spieler, die fünf Millionen Euro im Jahr verdienen wie Falcao bei Galatasaray.
Dazu Boni, Handgelder und so weiter. Vermutlich bekommen bei uns alle Spieler zusammen so viel wie Falcao.
Die Fußballmagazin Gazetespor hat ausgerechnet: „Die vier Topscorer von Sivasspor verdienen zusammen weniger als ein durchschnittlicher Kicker von einem der drei großen Istanbuler Klubs.“
Dadurch haben die Istanbuler Vereine aber auch große finanzielle Schwierigkeiten und immens viele Schulden angehäuft. Da ist von Summen die Rede, die sind unglaublich. Sivasspor hingegen wirtschaftet sehr bedacht.
Vor der Saison holte der Klub ausschließlich ablösefreie Spieler.
Auch deshalb ist Sivasspor schuldenfrei. Als einer von vielleicht drei oder vier Süperlig-Klubs.
Noch ein paar Zahlen: Der Marktwert Ihres Teams beträgt 33 Millionen Euro, der von Galatasaray 116 Millionen Euro, der von Besiktas 72 Millionen. Vor ein paar Tagen hieß es, dass Fenerbahce Max Kruse wegen Geldprobleme wieder verkaufen muss.
Die Süper Lig ist im Grunde eine Zweiklassengesellschaft. Es gibt die drei Großen, die immens viel Geld in große Namen investieren – und den Rest. Alle Fans vom Rest drücken uns gerade die Daumen, dass wir die Herrschaft der großen Drei durchbrechen. Auf uns liegt die Hoffnung vieler Türken.
Sie sind im Rheinland als Sohn türkischer Eltern aufgewachsen. Hand aufs Herz: Hatten Sie keinen Istanbuler Klub als Lieblingsverein?
Bei den Türken ist es so: Du hältst immer zu deinem lokalen Klub – und dann hast du einen Lieblingsverein in Istanbul. Meine Eltern, die aus Gaziantep stammen, unterstützen Gaziantepspor. Mein Vater mag außerdem Besiktas und meine Mutter Galatasaray. Ich fand als Kind Besiktas gut, aber das hat sich gelegt, als ich Profi wurde.
Sie haben aber früher nicht in Sivasspor-Bettwäsche geschlafen?
Sivasspor ist ein Traditionsklub, den ich natürlich kannte. Aber ich gebe zu: Wie alle türkischen Nachwuchsfußballer träumte ich auch davon, eines Tages bei einem der drei großen Istanbuler Klubs zu spielen.
Sie versuchten es erst mit einer Karriere in Deutschland.
Es begann sehr stockend. In der E‑Jugend war ich mal bei einem Probetraining von Bayer Leverkusen, wurde dort aber abgelehnt. Bis zu meinem 17. Lebensjahr spielte ich für lokale Verein wie den SC Enzen-Dürscheven und TSC Euskirchen, danach in der A‑Jugend-Bundesliga für den Bonner SC. Profi wurde ich bei Arminia Bielefeld, später war ich noch bei Eintracht Trier und beim MSV Duisburg. Aber weiter als Dritte Liga habe ich es in Deutschland nie geschafft.
Und dann haben Sie sich in der Türkei umgeschaut?
Eigentlich wollte ich erst mit Mitte 20 in die Türkei wechseln, dann aber stand eines Tages ein Scout bei einem Oberliga-Spiel an der Seitenlinie.
Der für ein Oberliga-Spiel aus der Türkei angereist war?
Einige türkische Klubs haben freie Scouts in Deutschland. Auch Altinordu Izmir, ein Zweitligist, der einen Mitarbeiter aus Hamm zur zweiten MSV-Mannschaft geschickt hatte. Ich war aber etwas skeptisch, die Zweite Liga in der Türkei wirkte damals sehr amateurhaft auf mich. Als ich aber drüben war, gefiel es mir, und weil es in Deutschland nicht weiterging, dachte ich mir: Versuch es!
Sie haben in der türkischen Zweiten Liga 116 Spiele gemacht, 19 Tore geschossen und 36 Treffer vorbereitet. Und jetzt sind Sie auf Champions-League-Kurs.
Verrückt, oder?
Klopfen mittlerweile die großen Vereine an?
Als ich bei Altinordu war, gab es schon mal ein vages Interesse von zwei Istanbuler Klubs, aber die Ablösesumme war ihnen zu hoch. Und jetzt? Mag sein, dass es Anfragen gibt, aber ich habe meinem Berater gesagt, dass ich davon nichts hören möchte. Denn Champions League kann ich hoffentlich auch mit Sivasspor spielen. Es ist auch toll zu sehen, wie sich Sivas verändert. Früher kamen kaum mehr als 10.000 Zuschauer, aber jetzt wird es langsam voller. Trotz Minusgraden. Ich glaube, wenn wir im letzten Heimspiel wirklich Meister werden können, macht sich die ganze Stadt auf zum Stadion.
Das Stadion fasst nur 28.000 Zuschauer, Sivas hat aber 250.000 Einwohner.
Glauben Sie mir: In der Türkei geht das schon, die werden irgendwie reinkommen. Zur Not setzen sie sich aufs Dach. (Lacht.)
Sivasspor führt die Tabelle seit dem 12. Spieltag an. Momentan liegt Ihr Team mit vier Punkten vor Fenerbahce. Was waren die Schlüsselmomente der Saison?
Sehr wichtig war das Spiel gegen Genclerbirligi, als wir Herbstmeister geworden sind. Wir schossen erst in der 97. Minute den Ausgleich zum 2:2. Der 2:1‑Sieg gegen Besiktas in Unterzahl war auch grandios.
Und Ihr schönstes Tor?
Mein Tor auswärts Galatasaray war krass. Auf einmal war das ganze Stadion mucksmäuschenstill! Das schönste Tor war aber das gegen Kayserispor aus spitzem Winkel. Mit dem Sieg haben wir die Tabellenführung übernommen.
„Manchmal hat man schon das Gefühl, dass die großen Vereine aus Istanbul bevorteilt werden.“
Herr Yesilyurt, seit Gründung der Süper Lig im Jahr 1959 gelang es nur Trabzonspor in den Siebzigern und Achtzigern sowie Bursaspor 2010, die Dominanz der großen Drei zu durchbrechen. Eine Verschwörungstheorie lautet: Am Ende wird eh ein Klub aus Istanbul Meister. Wie denken Sie darüber?
Sivasspor hatte ja schon mal eine große Chance auf die Meisterschaft, 2009 war das. Meister wurde aber Besiktas, mit zwei Punkten Vorsprung. Ich darf jetzt nichts Falsches sagen, aber manchmal hat man schon das Gefühl, dass die großen Vereine aus Istanbul bevorteilt werden. Wir bekommen unglaublich viele Karten. Doch wir sollten uns nicht darum kümmern. Wenn unsere Schüsse reingehen, dann kann niemand was machen – dann gehen sie halt rein.