Gewalt ist im argentinischen Fußball zur traurigen Normalität geworden. Der Kampf der Ultras wird immer brutaler. Bei Deportivo Merlo hat der Fanatismus unter Brüdern eine Familie entzweit – und beinahe der eigenen Mutter das Leben gekostet.
Deportivo Merlo. Ein Verein aus Pimera B Nacional, der zweiten argentinischen Liga, beheimatet in einem bescheidenen Viertel am Rande der Millionenmetropole Buenos Aires. Sportlich haben die Mannen in den weißen Trikots mit blauem Querstreifen über der Brust seit dem Gründungsjahr 1954 selten für Furore gesorgt. Bei den Salazars kennt der Fanatismus für den kleinen Stadtteilklub jedoch keine Grenzen. Er hat die Familie entzweit. Es ist eine Geschichte von Hass und versuchtem Brudermord.
Seit geraumer Zeit halten die Salazars das Zepter auf den Tribünen des 5000 Zuschauer fassenden Stadions „José Manuel Moreno“ fest in der Hand. Es begann mit Vater Jorge, der bis zu seinem Tod über 20 Jahre lang den Ton bei Merlos Ultras, den „Barra Bravas“, angab. Sohn Dante verriet einmal: „Zu Hause wurde nur über den Verein geredet.“ Einst vereint in ihrer Leidenschaft für die Blau-Weißen, stehen sich die Salazars mittlerweile mit unerbittlichem Hass gegenüber. Fünf Brüder, zwei Schwestern – und dazwischen Mutter María Inés Díaz.
Im Mittelpunkt des Dramas: Dante und Carlos alias „Caio“. Die Brüder führen einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft in der zersplitterten Ultrabewegung von Deportivo Merlo. Dabei geht es nicht nur um das Sagen auf den Rängen, sondern auch um Macht im Kiez. Die Loyalität zu den Mitstreitern steht über allem. „Egal, ob es meine Brüder sind. Meine Familie ist Merlo, die Ultras. Ich töte und sterbe für sie“, so Dante. Keine leeren Worte, sondern bitterer Ernst.
Die Mutter warf sich in einen Schuss
Drei Jahre ist es her, da zog Dante mit Pistole bewaffnet aus, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Bruder Carlos sollte sterben. Es war nicht die erste Auseinandersetzung der beiden. Doch diesmal trafen die Kugeln die eigene Mutter. María Inés Díaz hatte sich zwischen ihre beiden Söhne geworfen und war in Bauch und Schulter verletzt worden. Sie überlebte.
Die Verbitterung aber wuchs. „Ich hasse das Stadion und ich hasse den Klub. Sie haben mir alles kaputtgemacht“, sagt María Inés Díaz und fleht: „Ich möchte keinen meiner Söhne in einem Sarg sehen.“
Jüngste Episode des Bruderkampfes waren schwere Ausschreitungen im Vorfeld der Partie gegen Boca Unidos Ende August. Wie durch ein Wunder kam dabei keiner der rund 60 teils bewaffneten Chaoten ums Leben. Fünf Personen wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Das Spiel wurde anschließend abgesagt.
Schuld an allem sei Dantes Drogensucht
Unterdessen machte „Caio“ den Drogenkonsum seines Bruders für dessen Verhalten verantwortlich. Er selbst sei ein einfacher Arbeiter, der mit Gewalt nichts zu tun haben wolle. Schuld an allem sei die Drogensucht seines Bruders. „Er hat ein ernsthaftes Problem, und die Leute, die an seiner Seite sind, wollen das nicht verstehen“, erklärte „Caio“ in einem Radiointerview. Gleichzeitig schob er der Klubführung von Deportivo Merlo sowie den Sicherheitskräften eine Teilschuld an der Eskalation der Gewalt zu: „Ich habe vorher alle gewarnt, dass so etwas passieren könnte.“
Die Geschichte der Salazars ist keine Ausnahme. Wachsende Gewalt ist in und um die Stadien in Argentinien zur traurigen Normalität geworden. Die Auseinandersetzungen der rivalisierenden Ultras werden immer brutaler. Im vergangenen Mai war der 21 Jahre alte Daniel Sosa vor dem Stadiontor des Erstligistens Lanús von einem vorbeifahrenden Motorrad aus kaltblütig erschossen worden. Fünf weitere Personen wurden verletzt. Seit 1924 sind im argentinischen Fußball bereits 264 Todesopfer zu beklagen.
Aber auch Spieler sind nicht mehr sicher, wie das Beispiel Giovanni Moreno zeigt. Der Kolumbianer war vor einigen Monaten nach dem Training Opfer von Hooligans geworden. Auf dem Weg nach Hause stoppten sie das Auto des Angreifers, damals in Diensten von Racing Club de Avellaneda. Mit aufgesetzter Waffe drohten die Kriminellen dem formschwachen Publikumsliebling, ihm ins Knie zu schießen, sollten seine Leistungen nicht bald wieder besser werden.
Bei den Ultras handelt es sich dabei keinesfalls nur um dumpfe, gewaltbereite Rowdys. Es geht um Macht und Geld, häufig in Verbdingung mit kriminellen Geschäften. Die führenden Köpfe der „Barra Bravas“ verfügen über teils beste Kontakte zu Klubfunktionären, Politikern, Gewerkschaften und Polizei. Ein Beziehungsgeflecht, in dem eine Hand die andere wäscht – und das nur schwer zu zerschlagen ist. Einer der wenigen, die der Gewalt die Stirn bieten, ist Javier Cantero.
Der Präsident will sich der Gewalt nicht beugen
Der Präsident von Club Atlético Independiente hat den Ultras in seinem Klub den Kampf angekündigt. Er werde sich der Gewalt nicht beugen. Auch Drohungen und Angriffe auf seine Person konnten ihn nicht einschüchtern: „Ich habe keine Angst.“ Mit seiner Courage steht Cantero allerdings ziemlich alleine da. Weder vom Verband AFA noch von anderen Kluboberen erhält er Unterstützung.
María Inés Díaz hat bereits resigniert. In einem Interview mit der argentinischen Zeitung „Olé“ sagte sie jüngst: „Das wird nicht aufhören, bis einer meiner Söhne tot ist.“ Mehrfach habe sie Polizei und Gemeinde um Hilfe gebeten. Doch dort sehe man tatenlos zu. Sie ist sich sicher: „Sie wollen, dass sie sich untereinander umbringen, so dass einer stirbt und der andere ins Gefängnis wandert.“