Kürzlich warnte der ehemalige englische Nationalspieler Sol Campbell davor, als dunkelhäutiger Ausländer in die Ukraine zu reisen. Vor allem das westukrainische Lwiw soll ein Sammelplatz für Nazis und Hooligans sein. Wie ist es wirklich?
Die Altstadt von Lwiw ist ein Traum in Barock. Manche nennen die Stadt das Venedig des Ostens, und wer seinen Ukraine-Trip in den Industrieorten Charkiw oder Donezk begonnen hat, der erlebt womöglich einen kleinen Kulturschock. Alles so schön schön hier.
Doch das Bild des pittoresken Lwiw hat zuletzt Risse bekommen. In den vergangenen Wochen war im Zusammenhang mit Lwiw vornehmlich von Neonazis, von Hooligans oder vor beiden zu lesen. Zuletzt warnte etwa Sol Campbell in einer BBC-Dokumentation davor, als Schwarzer in die Ukraine zu reisen. „Bleiben Sie zu Hause, sehen Sie sich die Spiele im Fernsehen an. Riskieren Sie nichts, sonst könnten Sie am Ende in einem Sarg zurückkommen“, sagte der ehemalige englische Nationalspieler. Flankiert wurden seine Aussagen mit Bildern von rechten Schlägertypen aus Lwiw.
Um die hässlichen Seiten von Lwiw zu finden, muss man nicht in Vororte fahren
Tatsächlich ist Lwiw nicht nur Idyll, und um die hässlichen Seiten der Stadt zu finden, muss man nicht mal in die Vororte fahren. Dort, wo momentan die Fanmeile aufgebaut wird, an der historischen Freiheitsavenue, hat die „Allukrainische Vereinigung Swoboda“ normalerweise ihren Infostand. Direkt neben dem Denkmal des Dichters Taras Shevchenko verteilen dann alte Männer in Flyer und Broschüren zum Thema Überfremdung oder Doppelte Staatsangehörigkeit. Früher lief auch schon mal eine Trommelgruppe ihrer Jugendorganisation durch die Stadt.
Die rechtsnationale Partei ist eine der stärksten Kräfte der Region und mobilisierte in der Vergangenheit immer wieder Fußballfans für ihre Sache. Einmal gab es etwa einen großen Protest gegen ausländische Fußballer in der ukrainischen Premier Liga, dem über 5000 Anhänger folgten. Ein anderes Mal, am 9. Mai 2011, dem Jahrestag der Befreiung vom Naziterror, demonstrierte sie gemeinsam mit Fans des lokalen Klubs FK Karpaty Lwiw gegen ein Veteranentreffen der Roten Armee. Dabei kam es zu Übergriffen auf Busse mit Angehörigen der Opfer.
Die Fanszene von Karpaty Lwiw ist nicht per se rechtsextrem. Und doch scheinen Gruppen zu dominieren, deren Weltbild sich aus einer diffusen Mischung aus Patriotismus, Nationalismus, Antisemitismus und Antikommunismus zusammensetzt. Es gibt klassische Hooligangruppen wie „Pride“, das Löwenrudel, das sich nach dem Spitznamen von Karpaty, „Green Lions“, benannt haben, und die gerne und häufig mit rechter Symbolik spielen. Und es gibt Neonazis wie Vladimir oder „Knopf“, die im September 2010 dabei waren, als Anhänger von Borussia Dortmund vor einem Europapokalspiel in der Lwiwer Innenstadt überfallen wurden. Vladimir und „Knopf“ heißen eigentlich anders, sie möchten ihren Namen aber nicht in der Presse lesen. Beide sind stolz darauf, dass es in ihrer Kurve niemals „Neger, Araber oder Türken“ gab.
Er sagt, er stand beim Kampf 120 gegen 180 mal in der ersten Reihe
Sie treffen sich gelegentlich in einem Pub in der Lwiwer Altstadt. Dort gibt es englischen Whiskey und echtes Pint. Der Barmann trägt Krawatte. Einmal, erzählt Vladimir, habe er in einem Kampf 120 gegen 180, in der ersten Reihe gestanden.
Vladimir ist Ex-Capo der Banderstadt Ultras. Eine Gruppe, die sich nach dem ukrainischen Nationalistenführer Stepan Bandera benannt hat, und dessen Denkmal in Lwiw steht. Vladimir hat sich vor einiger Zeit von den offiziellen Ultras abgespalten, da diese den Schulterschluss mit dem Verein und dem reichen Klub-Oligarchen Piotr Deminski suchten. „Das ist nicht mein Fußball“, sagt er. Sein Fußball ist hart, rau und wider jeder Obrigkeit.
Doch Lwiw ist eben nicht nur Karpaty und Karpaty ist nicht nur Vladimir und seine Gang. Es gibt auch Fans wie Oleg Soldatenko, 41, ein kluger Kopf, der mit ruhiger Stimme spricht. Er sagt: „Es ist traurig zu sehen, dass viele junge Menschen Patriotismus mit Nationalismus verwechseln. Und diesen in seinen Extremen ausloten.“ Soldatenko sitzt in einem rustikalen Restaurant in der Lwiwer Altstadt, löffelt seine Borschtsch und isst seine Haluschky, gefüllte Teignocken. Er war schon mehrmals in Deutschland und nahm dort an Tagungen zu aktiver Fanarbeit teil. Die Gruppen, die solche Treffen organisieren, haben ein antirassistisches Selbstverständnis. Soldatenko blickt auf, so was würde er auch gerne haben, sagt er. Übergreifende und nachhaltige Fanarbeit. „Kennst du die KOS?“, fragt er. Die KOS, die deutsche Koordinationsstelle Fanprojekte, eine beratende und begleitende Instanz in der deutschen Fanlandschaft, ist sein großes Vorbild. Doch davon sei man hier weit entfernt.
„Love football, hate racism“. Daneben: Ein Hakenkreuz
„Die meisten Leute, die hier was zu sagen haben, mögen keine Veränderungen“, sagt er. Die Leute mögen es, wie es ist. Deswegen gibt es weder von den Städten noch von Verbands- oder Vereinsseite Bestrebungen gegen den Rechtsruck. Im Gegenteil: Es wird gerne darauf hingewiesen, dass es Neonazis beim Fußball auch in anderen Ländern gebe.
Das ist nicht von der Hand zu weisen. Allein, hier in Lwiw ist ihre Präsenz eine andere. Und auch der Umgang mit dieser ist nicht vergleichbar mit Deutschland, Spanien oder England. Auf dem Weg zum alten Ukrajina-Stadion prangen zahlreiche Graffiti der Banderstadt Ultras, eines direkt neben einem von autonomen Rechten. Immer wieder ist das Keltenkreuz zu sehen, daneben Slogans wie „White Power“ oder „White Pride“. Auf einer Wand an der Grenze zur Altstadt prangt die Parole „Hate Football, love Racism“. An einigen Stellen sieht man auch ein Hakenkreuz. Der Bürgermeister der Stadt, Andrij Sadowi, sagte kürzlich in einer RBB-Dokumentation: „Graffiti gibt es überall, das ist eine Mode-Erscheinung. Sollten sie aber Beleidigungen zeigen, wird die Stadt diese beseitigen. Aber bislang hat noch niemand eine Möglichkeit gefunden, Graffiti zu verhindern. Diese drücken ohnehin nur die Gefühle einiger junger Leute aus.“ Ukraines Staatsoberhaupt Viktor Janukowitsch sprach wenige Tage vor EM-Start von „Einzeltätern“.
Eugen Bantysh kennt das Neonazi-Problem im ukrainischen Fußball. Der 30-Jährige ist Fan von Dynamo Kiew. Oft stand er in der Kurve, als der Stadionsprecher Fangruppen aufforderte, rassistische Gesänge zu unterlassen. Als Antwort hoben die Jugendlichen neben ihm den rechten Arm. „Wieso ist das so? Ist das alles nur Provokation?“, fragt er. „Ihre Großväter wurden doch von den Nazis gefoltert und ermordet!“
„Vieles in der Ukraine ist wie in Deutschland vor 30 Jahren“
Aktive Fanarbeit, die KOS, antirassitische Tagungen – all das scheint vor so einem Hintergrund weit entfernt. Bantysh und Soldatenko wünschen sich für den Anfang eine Entwicklung wie in Polen, wo vor einigen Jahren die ersten Fanprojekte ins Leben entstanden. Doch die finanziellen Mittel und der Rückhalt der Behörden und Vereine sind für solche Vorhaben begrenzt. Bantysh erlebte das erst kürzlich, als er Gelder für die ukrainischen EM-Fanbotschaften beantragte. Der Kooperationswille hielt sich in Grenzen. Die Botschaften werden nun von der FSE, der Football Supporters Europe, unterstützt.
„Vieles in der Ukraine ist wie in Deutschland vor 20 oder 30 Jahren“, sagt Bantysh. „Doch man kann die Verhältnisse nicht mit einer Hauruck-Aktion ändern.“ Früher habe er mit den Jungen geredet, wenn sie neben ihm ihren rechten Arm hoben. Heute macht er das nicht mehr. „Wir brauchen Evolution, nicht Revolution“, sagt er.
Doch wie sehr betrifft dieser Status quo die EM-Touristen? Ist es tatsächlich unsicher, nach Lwiw, Charkiw oder Kiew zu reisen? Nicole Selmer vom Deutschen Fanbetreuungsteam der KOS ist schon mehrmals in der Ukraine gewesen. Vergangenes Jahr war sie in Kiew, als Deutschland gegen die Ukraine ein Freundschaftsspiel bestritt. Damals sah man keine Neonazis, keine Hooligans, keine Gestalten, wegen denen man auf die andere Straßenseite wechselt. Man sah Ukrainer, die seltsame Hüte trugen und ihre Wangen mit der Nationalflagge bemalt hatten. Alles wie in Deutschland also. Zwischen Klub-Fans und Anhänger der Nationalmannschaft liegen Welten.
„Es war noch nie so sicher in der Ukraine wie jetzt“
Selmer baut mit ihren Kollegen seit Mittwoch die mobile Fanbotschaft am Lwiwer Rathaus auf. Sie wird die deutschen Fans an die Spielorte begleiten. Sorge hat auch sie nicht: „Vermutlich war es noch nie so sicher in die Ukraine zu reisen wie in den kommenden drei Wochen.“
Vermutlich hat sie Recht. In dem englischen Whiskey-Pub ist heute niemand anzutreffen. Nicht mal der Barkeeper mit der Krawatte. Auch Vladimir ist nicht da. Morgen oder übermorgen fährt er in den Urlaub. Die EM, sagt er, interessiert ihn einen Scheiß. Und auch die Partei Swoboda ist immer noch zu sehen. Sie ist mit ihrem Infostand einfach 100 Meter weiter gezogen. Die alten Männer verteilen jetzt direkt hinter der Fanmeile ihre Prospekte.