Heute beginnt die Copa America 2015. In Chile. Der Ausrichter selbst gilt als einer der Favoriten auf den Titel.
Gary Medel hat die stattliche Körperlänge von 171 Zentimetern. Ein kräftiger Typ mit dem Spitznamen „Pitbull“. Dass Medel in der chilenischen Nationalmannschaft als Abwehrchef fungiert, würde man auf den ersten Blick nicht vermuten. Er ist jedem Mittelstürmer in der Luft unterlegen und nimmt gern mal drei, vier Schritte Anlauf, bevor er ins Kopfballduell geht. Was Medel an Körpergröße nicht hat, macht er mit Einsatz und purem Willen wett.
Der Pitbull musste auf einer Trage vom Feld gebracht werden
So gesehen bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr. Das kleine Chile traf damals im Achtelfinale auf Gastgeber Brasilien. Medel ging bereits angeschlagen in die Partie, war an beiden Oberschenkeln getapt. Als wenn das nicht schon genug wäre, verletzte er sich in der Anfangsphase des Spiels noch schwerer am linken Bein. Was sich später als Riss in der Oberschenkelmuskulatur entpuppen sollte, hinderte Medel nicht daran weiterzuspielen, zehn Kilometer zu rennen und Neymar kalt zu stellen. Medel kämpfte bis an den Rand der Besinnungslosigkeit. Erst in der 109. Minute der Verlängerung wurde er auf einer Trage vom Feld gebracht.
Chile verlor am Ende im Elfmeterschießen. Das Bild des weinenden Medels ging um die Welt. Und der 27-Jährige hatte sich in die Notizbücher einiger Klubs gespielt. Am Ende wechselte er von Premier-League-Absteiger Cardiff City zu Inter Mailand.
Fußball in Chile ist Spektakel
Fußball in Chile ist Fußball im Grenzbereich. Ob sich nun Colo-Colo und Universidad de Chile heißblütige Derbys liefern oder eben die Nationalmannschaft bei Turnieren für Furore sorgt. Es ist ein Spektakel. Wenn die Spieler von „La Roja“, so wie die Auswahl genannt wird, vor jeder Begegnung mit Inbrunst die Landeshymne schmettern, dann schwingt dort ein gehöriger Schuss Nationalstolz mit.
Chile ist der David in einer Welt voller Goliaths. Abgesehen von Torhüter Claudio Bravo ist in der Startelf normalerweise kein Spieler größer als 1,80 Meter. Dafür ist „La Roja“ eine Auswahl von Kampfzwergen, angeführt von Medel, Arsenals Alexis Sánchez und dem selbsternannten „Krieger“ Arturo Vidal. Der Juventus-Profi, noch einer der Größeren im Team, steht mit seinem Spielstil stellvertretend für die ganze Mannschaft.
„Selbstmörderisches“ Pressing
Aggressives Pressing in Verbindung mit unglaublich hohem Laufeinsatz bringt immer wieder den Rasen zum Brennen. Da spielt es keine Rolle, ob die Chilenen bei großer Hitze an der Copacabana oder bei niedrigem Sauerstoffgehalt auf dem Hochland Ecuadors antreten.
Der Pressingfußball von Bayer Leverkusen oder Borussia Dortmund wird schon als aufregend angesehen. Bei Partien von Chile braucht der Zuschauer zuweilen einen Sicherheitsgurt. Vidal und Co. sorgen für einen Orkan, wenn sie dem Ball hinterherjagen. Als „selbstmörderisch“ bezeichnete Spanien-Trainer Vicente del Bosque einst diesen Stil. Bei der letzten WM hatten die Iberer dem Pressing der Chilenen aber wenig entgegenzusetzen. Sie verloren mit 0:2 und schieden vorzeitig aus.
Den Grundstein legte Marcelo Bielsa. Der Argentinier trägt, wie passend, den Spitznamen „El Loco“, der Verrückte. Er war zwischen 2007 und 2011 Nationaltrainer. Mit einem progressiven Offensivstil belegte Chile in der Südamerika-Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2010 den zweiten Platz hinter Brasilien. Die erste WM-Teilnahme seit zwanzig Jahren machte Bielsa zum Nationalhelden.
Sampaoli brachte das Kollektiv zurück
Die hohe Intensität im Pressing, rasantes Kurzpassspiel und unorthodoxe Formationen wie ein 3−1−3−3 tragen heute noch die Handschrift Bielsas. Sein Landsmann Jorge Sampaoli übernahm im Jahr 2012 die chilenische Mannschaft, nachdem Claudio Borghi, der ebenfalls Argentinier ist, als Bielsa-Nachfolger glücklos blieb. Unter Borghi gab es zu viele Lücken in der Verteidigung der Chilenen. Nur als Kollektiv können sie aber überleben. Genau diesen Anspruch brachte Sampaoli wieder zurück.
Den 55-Jährigen kann man getrost als Fußballverrückten bezeichnen und selbst das klingt noch wie eine Untertreibung. Er schläft wenig, steht um fünf Uhr morgens auf und verbringt viele Stunden mit taktischer Analyse, Videostudium und Trainingsvorbereitung.
Doch das war nicht immer so. Sampaoli kickte als Jugendspieler bei Newell’s Old Boys aus dem argentinischen Rosario. Ein Schien- und Wadenbeinbruch zwang ihn im Alter von 19 Jahren zum Karriereende. Damals schwor Sampaoli dem Fußball ab. Er wurde Bankangestellter.
Pure Obsession
Erst Marcelo Bielsa brachte ihn zurück zum Fußball. Als dieser Newell’s Old Boys Anfang der neunziger Jahre trainierte, entschied sich auch Sampaoli für eine Karriere an der Seitenlinie – und tut dies seitdem mit purer Obsession. Als Amateurtrainer tourte er durch Europa, besuchte Profimannschaften in Spanien oder Italien. Er gab sein letztes Geld für diese Studienreise statt für Nahrung und Schlafplätze aus. So manche Nacht in Europa verbrachte er deshalb auf öffentlichen Plätzen.
Die Opfer zahlten sich aus. Über diverse Stationen in Peru und Chile landete er 2011 beim Renommierklub Universidad de Chile. Dort ließ der kleingewachsene Glatzkopf, der gerne mal als Animateur in der Coaching Zone fungiert, diese Art von aggressivem Pressingfußball spielen, der nun bei der Nationalmannschaft zu sehen ist.
Samapoli geht allerhöchstes Risiko: Teilweise sichern nur zwei Verteidiger an der Mittellinie ab. Alle anderen sind im totalen Jagdmodus. Damit feierte er schon bei „La U“ einige Erfolge. Neben drei Meisterschaften in der chilenischen Primera División holte er die Copa Sudamericana 2011. Der erste internationale Titel für einen Klub Chiles seit zwei Jahrzehnten.
Näher an Guardiola
Aber nicht nur Bielsa, den er bis ins letzte Detail studierte, ist ein Vorbild für Sampaoli. „Ich bin jetzt näher an Guardiola“, sagte er vor kurzem. Die Ideen des Bayern-Trainers in puncto Ballbesitzfußball und Positionsaufteilung imponieren Sampaoli. Trotzdem wird er keinesfalls die Identität der Chilenen opfern. Ihre unbändige Intensität werden die Gegner auch bei der nun anstehenden Copa América auf chilenischem Boden zu spüren bekommen.
Mit temperamentvollen Fans im Rücken schalten die Kicker von „La Roja“ einmal mehr in den Angriffsmodus. Anführer Gary Medel wetzt schon die Messer, wenn es gegen die Neymars und Messis geht.