Vor 20 Jahren liefern sich Deportivo Alavés und der FC Liverpool die vielleicht epischsten 117 Minuten Minuten der UEFA-Cup-Geschichte. Die Jahre danach sind beim baskischen Klub allerdings nicht minder unterhaltsam. Dafür sorgten ein nackter Präsident, Großmannssucht und ein Basketballklub.
Gäbe es gerade keine Pandemie, die Versuchung wäre groß, durch die unzähligen kleinen Bars in der Altstadt von Vitoria-Gasteiz zu ziehen, um 100 Leute zu fragen: In welche Stadt ging die beste Auswärtsfahrt aller Zeiten? Schließlich feiern sie in der nordspanischen Stadt in diesem Jahr ein doppeltes Jubiläum: Deportivo Alavés wird 100 Jahre alt, und ein absoluter Schlüsselmoment der Vereinsgeschichte ist exakt 20 Jahre her.
Die Top-Antwort auf die Frage nach der Auswärtsfahrt wäre übrigens Dortmund, kein Zweifel. Wenn das Westfalenstadion ins Spiel kommt, gerät der Alavés-Fan ins Schwärmen und vergisst für den Moment alles andere. Auch das, was danach kam: die Abstiege, die Insolvenz, den exzentrischen Oligarchen, der den Klub fast ruinierte. Am 16. Mai 2001 sehen 12.000 mitgereiste Alavesistas, wie der Außenseiter den großen FC Liverpool im UEFA-Cup-Finale ins Wanken bringt. Neun Tore, zwei Platzverweise, eine Verlängerung und ein Golden Goal ins eigene Netz – die vielleicht epischsten 117 Minuten der UEFA-Cup-Geschichte.
„Oh mein Gott, ist das einfach“
Nicht nur bei den Fans, auch bei den damaligen Spielern von Alavés hat die Reise in den Ruhrpott tiefen Eindruck hinterlassen. „Für uns war es damals das Debüt im europäischen Wettbewerb, und dann im Finale gegen Liverpool… Trotz allem waren wir überzeugt, dass wir gewinnen konnten“, erinnert sich jüngst Jordi Cruyff anlässlich des Vereinsjubiläums. Die Überzeugung, den Pokal wirklich heim ins Baskenland bringen zu können, weicht jedoch schnell der Ernüchterung. Markus Babbel trifft schon in der 3. Minute für die favorisierten Reds. In der 16. wird der junge Steven Gerrard im Strafraum freigespielt und netzt ziemlich mühelos zum 2:0 ein. Nach dem Anschlusstreffer scheint ein vogelwilder Torwartausflug frühzeitig den Deckel zugunsten von Liverpool draufzumachen. Keeper Martín Herrera verschätzt sich und stoppt Michael Owen im Sechzehner ungelenk von hinten. Den Elfmeter verwandelt Gary McAllister zum 3:1‑Pausenstand. Die Engländer wähnen sich bereits als sichere Sieger. „Ich ging vom Rasen und dachte: Oh mein Gott, ist das einfach“, sagte Michael Owen 2016 im 11 FREUNDE-Interview.
Er soll sich irren: Nur vier Minuten braucht Deportivo Alavés in der zweiten Halbzeit, um auszugleichen. Liverpool geht erneut in Front, aber zwei Minuten vor Schluss gelingt Jordi Cruyff das 4:4. In der Verlängerung verliert Alavés erst zwei Spieler durch Gelb-Rote Karten und dann das Spiel per Golden Goal mit 4:5 – durch ein Eigentor in der 118. Minute.
Die Partie ist so etwas wie der Inbegriff eines wilden Ritts. Viel Zeit zum Durchatmen bekommt Alavés danach nicht. Die Entwicklungen beim „größten Vizechampion aller Zeiten“, wie die Tageszeitung El País tags darauf jubiliert, sind unaufhaltsam.
In 100 Jahren Vereinsgeschichte kann Alavés gerade einmal 16 Saisons in der Primera División vorweisen. Titel: Fehlanzeige. Erfolgreichen Sport bekommt man in Vitoria-Gasteiz woanders geboten. Saski Baskonia ist seit Jahrzehnten eine echte Referenz im spanischen und europäischen Basketball, mehrfacher spanischer Meister. Spätestens nach Dortmund wird in der Basketballstadt jedoch auch der Fußball wieder attraktiv. 2001/2002 gelingt Alavés nochmals die Qualifikation für den internationalen Wettbewerb, aber im Jahr darauf geht es runter in die Segunda División. Überraschend kommt das nicht wirklich. Der Klub legt Wert auf solide Finanzen, hält sich auf dem Transfermarkt zurück, ist dadurch quasi schuldenfrei. Sportlich reicht es aber nicht.
2003/2004 misslingt der direkte Wiederaufstieg, während in Madrid und Barcelona Florentino Pérez und Joan Laporta mit den Neuverpflichtungen David Beckham und Ronaldinho für Aufsehen sorgen. Im Umfeld von Alavés fantasieren einige, der Klub wäre auch auf dem Weg in diese Kategorie, schließlich habe man gerade erst fast den UEFA-Cup geholt. Als im Sommer 2004 die Führungsriege hinwirft und der Mehrheitsanteil des Klubs zum Verkauf freigegeben wird, werden die Sehnsüchte einiger nach einem „starken Mann“ erfüllt – und die Talfahrt beginnt.
Massiven Fanprotesten zum Trotz sichert sich der Ukrainer Dimitri Piterman die Klubanteile. Der Geschäftsmann kann ein paar Erfolge als Dreispringer in seiner Jugendzeit vorweisen, das war’s dann aber auch mit seinem sportlichen, geschweige denn fußballerischen Hintergrund. Dennoch ist er der Überzeugung, an ihm sei ein Trainer verlorengegangen. Bei seiner vorherigen Station als Präsident von Racing Santander lässt er sich als Fotograf akkreditieren, um in den Stadioninnenraum zu gelangen. Hinter der Trainerbank postiert diktiert er seinem Coach die taktische Marschroute. In Santander jagt man den windigen Oligarchen schnell wieder vom Hof. Bei Alavés kann er sich austoben.
Als eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident von Alavés lässt Piterman sich vom Klatschblatt Interviú auf der Trainerbank im Estadio Mendizorroza ablichten – splitterfasernackt. „Du bist ja ein hübscher Kerl, aber das nächste Mal ziehst du dich besser zuhause auf der Couch aus“, übermittelt ihm Fan-Ikone Asun Gorospe, Allesfahrerin seit den 1950er-Jahren, stellvertretend für die erbosten Fans. Als diese Piterman im Stadion auspfeifen, betitelt er sie als „minderbemittelte Säufer“. Trainer sind für Piterman nichts als Marionetten, die er nach Belieben einstellt und wieder feuert. Aus Santander bringt er seinen „Wegwerftrainer“ (El País) Jesús „Chuchi“ Cos mit und erkauft mit einem überteuerten Kader den Wiederaufstieg. Es bleibt jedoch bei einem einjährigen Intermezzo in der Primera División.