Heute feiert der 1. FC Köln seinen 70. Geburtstag. Karl-Heinz Thielen, Wolfgang Weber und der bereits verstorbene Hannes Löhr waren dabei, als der Klub zum „Real Madrid des Westens“ wurde. 2011 haben wir sie auf ein Kölsch getroffen.
Wolfgang Weber, Hannes Löhr, Karl-Heinz Thielen, wir treffen uns im Geißbockheim, dem ersten Trainingszentrum in der deutschen Fußballgeschichte. Ihre schönste Erinnerung in Verbindung mit diesem Ort?
Wolfgang Weber: Die erste Bundesliga-Meisterschaft 1964. Nach dem Spiel sind wir mit einem Umzug durch Köln gezogen, anschließend fanden hier die Feierlichkeiten statt. Auf dem Parkplatz standen 30 000 Menschen.
Hannes Löhr: Das Geißbockheim war das Zentrum meines sportlichen Wirkens. Zwischen 1964 und 1986 war ich hier als Spieler, Co-Trainer, Trainer und Manager heimisch. Wenn ich hierhin komme, fühle ich mich zu Hause.
Karl-Heinz Thielen: Als Student habe ich hier sogar gewohnt. Das war praktisch, weil wir zweimal am Tag trainiert haben und ich morgens um sechs zum Repetitor musste. Unser Präsident Franz Kremer hat für mich sein Büro geräumt. Stattdessen wurde mir eine kleine Wohnung eingerichtet, was mir half, mein Studium zu Ende zu bringen.
Was haben Sie studiert?
Thielen: BWL. Es war damals nicht einfach, als Profi gleichzeitig zu studieren. Ich habe vor dem Examen anderthalb Monate nicht gespielt. Franz Kremer hat gesagt: ›Es ist wichtiger, dass Sie das Diplom schaffen.‹
Gibt es einen speziellen Platz hier, der für Sie besondere Bedeutung hat?
Weber: Das Entmüdungsbecken hatten wir damals als erster Verein in Deutschland. Allerdings konnten wir nicht nach jedem Training damit rechnen, dass auch Wasser im Becken war.
FC-Präsident Kremer gilt als Urvater der Kommerzialisierung im deutschen Fußball und Erfinder der Bundesliga.
Thielen: Er hat als einer der Ersten erkannt, in welche ökonomischen Bereiche sich der Fußball entwickelt. Zur Meisterfeier traf er mit einer Brauerei ein Abkommen, damit sie dem FC das Bier umsonst zur Verfügung stellt. Die Mitglieder konnten umsonst Bier trinken, aber sie mussten ein Glas mit unseren Namen kaufen. An diesem Tag wurden 15 000, 20 000 Gläser für zwei Mark das Stück verkauft. Da wurde mir bewusst, wieviel Geld im Fußball zu verdienen ist.
Hannes Löhr, Sie wechselten als umworbenes Talent aus Saarbrücken zum FC. Warum?
Löhr: Weil es der am besten geführte Klub war und weil man ordentlich Geld verdienen konnte. Damals hatte ich die Auswahl zwischen 16 Vereinen, weil ich im Südwesten zweimal Torschützenkönig geworden war. Sicher hätte ich irgendwo noch mehr verdienen können, aber der FC war das, was heute Bayern München darstellt. Man musste einfach dahin.
Und Sie, Wolfgang Weber?
Weber: Ich war Jugendnationalspieler in Porz und bekam Angebote vom FC, von Viktoria Köln und aus Leverkusen. Die Gründung der Bundesliga stand bevor, und mir war klar, dass von diesen drei Vereinen nur der FC die Chance haben würde, aufgenommen zu werden. Und ich wollte natürlich ganz oben mit dabei sein.
Welche Strahlkraft ging damals von der Bundesliga aus? Wenn etwas neu eingeführt wird, gibt es auch immer reichlich Bedenkenträger.
Thielen: Die Bundesliga wurde unisono positiv aufgenommen. Dagegen waren nur die Vereine, die nicht aufgenommen wurden, etwa Alemannia Aachen. Und es gab auch böse Stimmen, die behaupteten, Kremer habe die Gründung absichtlich vorangetrieben, um die unmittelbaren Konkurrenten auszuschalten. Völliger Unsinn.
Löhr: Die Liga wurde auch von Sepp Herberger gewünscht. Er wollte Kräfte bündeln, um dadurch eine leistungsstärkere Nationalmannschaft zu bekommen.
Weber: Ein Grund war sicher auch, dass Deutschland bei der Weltmeisterschaft 1958 nur Vierter geworden und 1962 sehr früh ausgeschieden war. Die anderen Verbände in England, Spanien und Italien hatten das Profitum bereits 1900 eingeführt. Nur in Deutschland glaubte man noch, mit Halbamateuren zurechtzukommen. 1954 hatte das noch geklappt, aber auf Dauer war das kein Zustand.
Der FC stilisierte sich unter dem Marketing experten Kremer zum piekfeinen „Real Madrid des Westens“. Wie fühlte es sich für Sie an, wenn Sie zum Auswärtsspiel nach, sagen wir, Braunschweig fuhren?
Löhr: Die Umkleiden waren in Braunschweig besser als anderswo, aber es war natürlich nicht so komfortabel wie am Geißbockheim.
Thielen: Baulich waren wir schon die Nummer eins, aber es ging auch um die sportliche Reputation. Wir waren in Deutschland, gelinde gesagt, nicht sehr beliebt. Es hieß immer: ›Da kommen die Eingebildeten.‹
Weber: Nur, weil du Student warst. (lacht)
Thielen: Uns eilte der Ruf voraus, dass wir hochnäsig seien. Wir traten bei den Auswärtsspielen auch immer picobello auf. Klubanzüge waren Pflicht. Franz Kremer achtete darauf, dass wir uns gut benahmen.
Einreiher oder Zweireiher?
Thielen: Graue Einreiher mit silber gesticktem ›1. FC Köln‹. Meinen habe ich immer noch im Schrank.
Auch eine Marketingidee von Kremer.
Thielen: Er hatte diesen frankophilen Einschlag, den er sich während seiner Zeit in Paris, wo er seine spätere Frau kennenlernte, angeeignet hatte. Er fuhr stets mit einem schicken Citroen-Cabriolet vor. Bei ihm spielten auch Dinge wie Tischmanieren eine Rolle.
Aber ein guter Fußballer ist ja nicht automatisch jemand, der mit Messer und Gabel umgehen kann.
Weber: Wenn Kremer etwas auffiel, nahm er sich einen schon mal zur Seite.
Thielen: Er machte das ganz unauffällig, sagte Sachen wie: ›Wenn Ihr Kinn in der Suppe ist, dann sagen Sie mir Bescheid.‹ Wir durften auch das Messer nicht an der Gabel saubermachen. Dann sagte er: ›Wir sind hier nicht beim Scherenschleifer.‹ Trotzdem hat er es hinbekommen, nie oberlehrerhaft zu wirken.
Löhr: Als ich zum FC kam, bin ich zu Kremer in die Franzstraße, da kam mir Hans Schäfer entgegen und der meinte: ›Na, du Eitorfer Bur, sieh zu, datt du den Vertrag unterschrievst.‹ Als wir uns einig waren, ging ich mit dem Mannschaftsbetreuer Neubauer, Kremers ausführendem Organ, zum Schneider Leo Hanf. Dann wurde der Klubanzug angepasst; ich bekam zwei Hemden, Socken, einen Smoking, einen Mantel und Schuhe.
Weber: Du hast einen Smoking bekommen? Das ist ja ein dickes Ding.
Löhr: Ich war ja auch ein guter Spieler! Mit dem Smoking gingen wir sogar zur Karnevalssitzung.
Woran merkten Sie, dass Sie außerhalb Kölns als arrogant wahrgenommen wurden?
Thielen: Es gab das Gerücht, wir hätten unsere Trikots bei Dior machen lassen. Dabei waren wir nur die Ersten in Deutschland, die ein diagonal gestreiftes Trikot trugen.
Löhr: Die Trikots kamen tatsächlich aus Frankreich.
Thielen: Aber wohl nicht vom Designer. Da wir aus finanziellen Gründen sehr viele Freundschaftsspiele machten, sind wir zu Spielen nach Holland, Frankreich und Belgien gereist. Da hat Franz Kremer diese diagonal gestreiften Jerseys entdeckt. In Deutschland waren einfarbige üblich. Aber das Gerücht war in der Welt.
Löhr: Und gegen den Ruf haben wir uns auch gar nicht so recht gewehrt.
Thielen: Stimmt. Egal, wo wir hinkamen, stellten wir etwas dar. Dabei hatten wir lediglich das Glück, 15 Spieler zu haben, die alle extrem viel Ehrgeiz und eine gute Qualität hatten. Und wer erfolgreich ist, wird auch immer ein bisschen als arrogant empfunden.
Weber: Noch vor der ersten Bundesligasaison war der FC zwischen 1959 und 1963 immer Westdeutscher Meister geworden. Mit großem Vorsprung. Und die westdeutsche Oberliga war die stärkste in ganz Deutschland. Bis 1965 waren wir immer auf einem der ersten beiden Plätze. So was ruft zwangsläufig bei anderen einen gewissen Neid hervor.
Löhr: Es wird nie jemand auf einen Verein neidisch sein, der Letzter ist.
Weber: Mitleid bekommst du geschenkt …
Thielen: und Neid musst du dir verdienen.
Nach jedem Spiel gab es im Geißbockheim ein gemeinsames Essen.
Löhr: Anfang der Sechziger haben wir sogar nach jedem Training zusammen gegessen. Wenn wir nach München oder Hamburg gefahren sind, haben wir immer in den besten Hotels gewohnt, nie in irgendeiner Absteige. Man konnte gar nicht anders, als sich gut zu benehmen.
In einem Filmbeitrag aus den Sechzigern heißt es: ›Bei Kremer werden Calvados und harte Männergetränke getrunken.‹
Thielen: Dabei hat er den Verein erst vom Biertheken-Image gelöst, das im Fußball vorherrschte.
Löhr: Er hatte hier im Geißbockheim ein feudales Zimmer mit einem großen Tisch und Lederstühlen, wo er die Leute zu sich kommen ließ. Wenn es mal nicht lief, kam Franz Kremer und sagte: ›Jetzt geht es nur um den Klub, und wer nicht mitmacht, der kann sehen, wo er bleibt.‹ Er war da nicht pingelig: Wer nicht in die Gruppe passte, von dem hat er sich schnell getrennt. Er konnte einen aber auch in den Arm nehmen. Kurz: Er war der Vater dieses Klubs.
Und er war auch immer greifbar?
Thielen: Er hat sich fast jede Trainingseinheit angeschaut und gerne dabei zigarrerauchend mit den Fans diskutiert. Es war sein Unternehmen. Je besser der Verein war, desto besser ließ er sich vermarkten. Fußball war damals ein anderes Milieu. Franz Kremer musste sich auch erst gegen die Opposition durchsetzen, denen passte das Weltmännische nicht. Aber er hat es geschafft, die wirtschaftlichen Größen an einen Tisch zu bringen und mit der Firma Mülhens von 4711, dem Gerling-Konzern und Kaufhof ein Sponsoring auf die Beine zu stellen, das es noch gar nicht gab. Das Geißbockheim ist nicht mit Einnahmen aus dem Fußball gebaut worden, sondern durch Sponsoren.
War Kremer ein Stück weit ein Sonnenkönig?
Löhr: Nein, Kremer war der Chef, und so nannten ihn auch alle: ›Boss‹.
Thielen: Er hat uns immer gesiezt, so wie wir ihn auch. Ich hab ihn mal gefragt: ›Warum machen Sie das eigentlich?‹ Da meinte er: ›Das will ich Ihnen sagen. Ich habe schon oft ›Du Arschloch‹ gehört, aber ›Sie Arschloch‹ noch nie.‹
Weber: Kremer hatte keine Kinder, und ich glaube, dass er seine Spieler alle mehr oder weniger als seine Zöglinge verstand.
Löhr: Aber seine Triebfeder war: Er wollte den besten Verein der Welt. Einen Klub wie Real Madrid, deshalb haben wir ja in Weiß gespielt.
Haben Sie beim FC auch im Verhältnis besonders gut verdient?
Thielen: Wir haben es jedenfalls versucht. Franz Kremer hat trotz der Vereinsstruktur eine Satzung eingeführt, die einer Aktiengesellschaft entsprach, mit Aufsichtsrat und Vorstand. Aber die Größenordnungen waren natürlich andere als in Spanien.
Über was für Summen sprechen wir hier?
Thielen: 2000 Mark waren damals eine Summe, die deutlich über dem lag, was man bei einer normalen Arbeit verdienen konnte. Aber es war dennoch nicht die Hauptmotivation. Die bestand darin, in der Mannschaft zu spielen, die zu dieser Zeit die beste in Deutschland war.
Weber: Wir durften damals nicht mehr als 1250 Mark verdienen.
Löhr: Das kam darauf an, ob man Nationalspieler war oder nicht. Nationalspieler durften mehr verdienen.
Kremer war in Gelddingen sehr findig. Er soll mittwochs Freundschaftsspiele durchgeführt haben, die Ihnen Sonderprämien einbrachten.
Löhr: Das Geld dafür gab es obendrauf. Dadurch kamen manche Spieler auf zehn Spiele pro Monat.
Der ›Spiegel‹ schrieb damals, beim 1. FC Köln gebe es als zusätzliche Bezahlung Bausparverträge und Grundstücke. Hans Schäfer soll sogar eine Tankstelle bekommen haben.
Thielen: Hans Schäfer war damals der wichtigste Spieler des FC. Er lebte vor, was den Klub fußballerisch ausmachte. Der Präsident zeigte den Spielern Wege auf, Kapital für später anzusammeln. Franz Kremer hat sechs Familienhäuser für junge Spieler gebaut, die wir dann über unser Gehalt bezahlen mussten.
Weber: Kremer wollte die besten Spieler längerfristig binden. Das war ein Mittel, um uns hier in Köln zu halten.
Sie drei haben also alle ein Haus gekauft?
Weber: Hannes war da noch gar nicht dabei, der hat später zwei Häuser bekommen, nicht nur eins. (lacht)
So ein Bausparvertrag war fester Bestandteil der Vertragsverhandlungen?
Thielen: Nein, er hat gesagt: ›Das Geld, das ihr jetzt verdient, ist leicht verdient, aber auch schnell wieder ausgegeben.‹ Davor wollte er uns bewahren.
Weber: Kremer hat die Häuser nicht selbst gebaut, er hat nur dafür gesorgt, dass Grundstücke besorgt wurden.
Löhr: Zuerst wurde Richtfest gefeiert, dann war das Haus fertig, und wir haben im Monat 500 Mark bezahlt. Den ganzen Stress, den so ein Hausbau mit sich bringt, hat er von uns ferngehalten. Schauen Sie sich nur Mannschaftsfotos aus dieser Zeit an. Da finden Sie kaum einen, der heute von Hartz IV lebt.
Wer waren die wichtigsten FC-Trainer der Sechziger?
Thielen: Der erste Trainer, der diesen Klub auf eine internationale Ebene gebracht hat, war Tschik Cajkovski. Er hatte vorher als Trainer den FC Utrecht übernommen, die Letzter in der holländischen Liga waren. Mit denen hat er kein Spiel verloren. Tschiks besondere Qualität war die Motivation. Er hat uns angesteckt mit seinem Fußballwahn.
Er war also kein Schleifer?
Thielen: Mit Schleifen hatte der rein gar nichts zu tun, im Gegenteil. Er hat dich einfach begeistert.
Weber: Er war der richtige Trainer zum richtigen Zeitpunkt.
Jugoslawische Übungsleiter waren gemeinhin für ihr hartes, körperliches Training bekannt.
Thielen: Beim Tschik haben wir immer nur gespielt, wir haben alles mit dem Ball gemacht. In den Fünfzigern hatten zwei Nationalmannschaften die Welt beherrscht: die Ungarn und die Jugoslawen. Tschik kam aus dieser Generation, er hatte ein unerschöpfliches Wissen von Geschichten und Spielen.
Löhr: Das Problem war, dass er nicht diszipliniert war. Einmal hat er gesagt: ›Nikita (Cajkovskis Spitzname für Overath, d. Red.) ich schmeißen raus.‹ Zwei Tage später gegen Bayern München hat Overath aber gespielt. Da wusstest du als Spieler, der erzählt viel, wenn der Tag lang ist. So etwas nutzen Spieler ganz schnell aus. Und irgendwann war er nicht mehr tragbar.
Auf Cajkovski folgte Schorsch Knöpfle.
Thielen: Er war genau das Gegenteil. Ein aufrechter Mann, der wie verrückt auf Disziplin achtete. Mit ihm sind wir sofort wieder Deutscher Meister geworden, weil er dieses Vakuum aus Disziplinlosigkeiten ausgefüllt hat.
Knöpfle war der erfolgreichste Bundesligatrainer in den Sechzigern. Was konnte er besser als jeder andere?
Löhr: Er war vielleicht nicht der große Fußballstratege, aber er hat diese Mannschaft, die ja von sehr guten Spielern geprägt war, wunderbar geführt.
Weber: Er war der ideale Trainer, weil er auf junge Leute wie Wolfgang Overath und mich gesetzt hat. Uns hat er an eine Mannschaft herangeführt, die mit erfahrenen Leuten wie Hans Schäfer, Hansi Sturm und Fritz Ewert durchsetzt war und auch über junge Wilde wie Karl-Heinz Thielen oder Helmut Benthaus verfügte. Wir sind mit sechs, acht Punkten Vorsprung Meister geworden.
Thielen: Wolfgang Overath hat als Neuling in den ersten sieben oder acht Spielen immer das 1:0 gemacht. Unglaublich. Hans Schäfer hat ihn einfach nach vorne geschickt, und die anderen haben hinten dichtgemacht.
Weber: Dabei sind in der gesamten Saison nur 14 Spieler für uns aufgelaufen. Wir haben fast immer in derselben Formation gespielt. Das war das Erfolgsgeheimnis.
Das herausragende Spiel dieser Ära war das Viertelfinale im Landesmeistercup 1965 gegen den FC Liverpool, das nach drei ausgeglichenen Spielen – je 0:0 bei Heim- und Auswärtsspiel, die Entscheidung auf neutralem Platz in Rotterdam endete 2:2 – per Losentscheid die Engländer zum Sieger machte.
Weber: Wir hatten es geschafft, mit zehn Mann eine europäische Spitzenmannschaft an den Rand einer Niederlage zu bringen. Unser Beobachter hatte die vorher etwas überhöht dargestellt, so dass wir zu viel Respekt hatten. Wir waren selbstbewusst, aber nicht genug, um Liverpool zu schlagen.
Wolfgang Weber zog sich einen Wadenbeinbruch zu und konnte kaum noch laufen.
Thielen: Dadurch wurden wir hinterher plötzlich als sympathische Verlierer gesehen. Vorher waren wir immer die unsympathischen Gewinner gewesen. Als der Schiedsrichter nach dem Abpfiff beim Entscheidungsspiel in Rotterdam die Münze warf, war uns das natürlich noch nicht bewusst.
Wo haben Sie den Losentscheid erlebt, Wolfgang Weber?
Weber: Ich saß ungefähr auf der Höhe der Mittellinie, und nichts passierte. Ich habe gedacht: Hoffentlich springen die Weißen hoch! Mir ist erst später zugetragen worden, dass die Münze einmal im Morast steckengeblieben war. Und auf einmal sprangen die Roten hoch. Das war der absolute Tiefpunkt in meiner Fußballerkarriere.
Hat diese tragische Niederlage das weitere Schicksal des FC beeinflusst?
Löhr: Dieses Spiel war ein Knick in der Vereinsgeschichte. Das Los fällt, neigt sich etwas auf Weiß, aber es bleibt im Schlamm hängen. Der Schiedsrichter nimmt es wieder hoch, schmeißt, und es fällt auf Rot. Wenn der Hans Schäfer Kapitän gewesen wäre, hätten wir gewonnen, aber Hansi Sturm war halt ein Pechvogel.
Thielen: Das gilt ja auch für Trainer. Selbst gute Trainer brauchen Glück.
Löhr: Wir haben durch dieses Spiel unfassbar an Sympathie gewonnen, wir waren so was wie „Der Meister der Herzen“ … wenn ich so einen Driss schon höre!
Wie haben Sie das in den folgenden Monaten wahrgenommen?
Löhr: Ich war enttäuscht, aber dadurch, dass alle gesagt haben: ›Toll gespielt!‹, habe ich es überwunden. Aber es besteht immer die Gefahr, dass man in solchen Situationen genügsam wird. Alle Zuschauer sagen: ›Ihr seid die Besten.‹ Das ist immer schlecht, denn man verliert den Killerinstinkt.
Wurden Sie nach 1965 genügsamer?
Löhr: Wir waren plötzlich überall beliebt, und dann lässt man zwangsläufig ein bisschen nach. Und außerdem hatten wir keine gute Führung und keinen guten Trainer mehr. Und in der Mannschaft stimmte auch einiges nicht.
Warum ist es dem 1. FC Köln nicht gelungen, die herausragende Position zu konservieren? 1968 waren Sie noch Pokalsieger, im Jahr darauf wären Sie fast abgestiegen.
Weber: Meine Theorie ist, dass nach dem frühen Tod von Franz Kremer 1967 der Klub an der Spitze deutlich weniger prägnant geführt wurde. Das hat uns zurückgeworfen.
Löhr: Nachdem Kremer gestorben war, hatten wir ein Vakuum, das nicht ausgefüllt wurde. Dementsprechend strebte unser Verein nicht mehr nach dem Besten, sondern hat eigentlich nur noch überlebt.
Thielen: Wir gehörten aber immer noch zu den ersten fünf.
Weber: Es wurde auf höchstem Niveau geklagt. Cajkovski musste gehen, weil er das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft nicht gewonnen hatte, Schorsch Knöpfle, weil er nur Zweiter in der Bundesliga geworden war.
Was stimmte Ende der sechziger Jahre in der Mannschaft nicht?
Thielen: Wir hatten damals einen Torwart, der mal Weltklasse gehalten hat und mal Kreisklasse: Paul Heyeres. Einmal haben wir im Europacup 2:0 gegen den FC Barcelona geführt. Endstand: 2:2 – weil er einen Ball von der Mittellinie reingekriegt hat und einen von der Außenlinie. Wenn du keinen guten Torwart hast, bist du immer in Abstiegsgefahr. Wir haben uns am Ende der Serie durch ein 3:0 gegen Nürnberg gerettet, mit einem A‑Jugendlichen im Tor. Dieselbe Mannschaft ist dann im nächsten Jahr Vierter geworden, weil wir einen anderen Torwart hatten: Manfred Manglitz. Diese Personalentscheidungen hatte auch mit der Klubführung zu tun.
Löhr: Die Maxime von Franz Kremer war: ›Immer das Beste für den 1. FC Köln!‹
Heute wird immer wieder die Mediensituation in Köln als Grund angeführt, dass der Klub nicht zur Ruhe kommt. Wie sehr hatten Sie zur aktiven Zeit mit Schlagzeilen zu kämpfen?
Löhr: Auch wir hatten den Druck, den die Tageszeitungen ausübten. Und es kam noch etwas hinzu: Wenn wir schlecht spielten, kamen sofort 10 000 Zuschauer weniger ins Stadion. Du hast eine sofortige Reaktion der Zuschauer auf die Leistung der Mannschaft bemerkt. Und wenn du gewannst, kamen sie wieder. Gegen Eintracht Braunschweig hatten wir mal zu Hause 19 000 Zuschauer. Franz Kremer meinte: „Das ist das erste Mal unter 20 000.“ Und das nur, weil wir vorher zweimal hintereinander verloren hatten.
Weber: Wir haben uns damals im Geißbockheim umgezogen und sind im Trainingsanzug mit dem Bus zum Stadion gefahren. Auf der Fahrt gab es immer ein Omen, ob wir an dem Spieltag gewinnen würden, denn wir fuhren am Krankenhaus in Hohenlind vorbei. Wenn da eine Nonne im Garten stand, haben wir gesagt: ›Heute kann nichts schiefgehen.‹
Inzwischen ist jeder Klub stolz auf seine Tradition. 1960 war der FC gerade einmal zwölf Jahre alt. Welche Rolle spielte damals Tradition im Fußball?
Thielen: Eine große. Es wurde Franz Kremer zum Vorwurf gemacht, dass er den Klub, der aus der Fusion von Sülz 07 und Kölner BC hervorging, 1. FC Köln nannte. Andere Vereine wie der VfL 99 hatten mehr Tradition und waren größer. Das haben die Kölner nicht vergessen. Anfänglich kamen unsere Anhänger in der Mehrzahl eher aus dem Umland als aus der Stadt selber. In der Stadt waren viele eifersüchtig auf unseren Erfolg.
Löhr: Aber das legte sich, weil die Zuschauer eine Bindung zu uns Spielern aufbauten. Wir waren ja allesamt Eigengewächse und standen treu zum Verein. Ich glaube, diese Form von Identifikation gibt es heute nicht mehr.
Ihre Anhänger waren gefürchtet in der Liga.
Weber: Einmal gab es eine Platzsperre, weil der Schiedsrichter beim Match gegen Frankfurt von unseren Fans mit einem Knüppel bedroht worden war. Deshalb mussten wir in Wuppertal spielen. Das Spiel gegen Braunschweig dort war mit 28 000 Zuschauern ausverkauft, davon 20 000 Kölner. Wenn es brannte, waren die immer da, denn der Kölner wird wach, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt.
Von Udo Lattek stammt der Fußballspruch des Jahres 2010: ›Im Kölner Stadion ist immer so eine super Stimmung, da stört eigentlich nur die Mannschaft.‹
Löhr: Zu unserer Zeit war das leider anders. Aber wir haben die Fans natürlich auch verwöhnt, deshalb waren sie viel kritischer. Für uns war eine Saison nicht erfolgreich, wenn wir nicht Meister wurden.
Wie quittierten das die Anhänger?
Löhr: Als wir 1968 in Ludwigshafen im Finale gegen Bochum den Pokal holten, fuhren wir nach dem Spiel mit dem Bus zurück und stiegen still und leise hier am Geißbockheim aus. Wir zogen uns um und gingen nach Hause – da niemand auch nur darüber nachgedacht hatte, einen Empfang für uns zu veranstalten.