Atli Edvaldsson, eine Ikone der isländischen Fußballkultur, ist verstorben. Wir sprachen einst mit ihm über Fußball unter der Mitternachtssonne, Udo Lattek und den Eismeer-Zico.
Atli Edvaldsson, in Deutschland glaubt man gemeinhin, Island sei ein Fußballzwerg. Bei einer Einwohnerzahl von 312.000, vergleichbar mit Bonn, hat das Land jedoch erstaunlich viele gute Fußballer hervorgebracht. Wie kommt das?
Das kommt da her, dass wir hier exzessiv Fußball spielen – wie die Verrückten! Im Sommer, wenn die Mitternachtssonne am Himmel steht, spielen die Kinder, bis sie vor Erschöpfung umfallen. Früher wurden sie im Winter in ihrer Leistungsstärke zurückgeworfen, weil sie nicht trainieren konnten. Aber mittlerweile haben wir hier genug Sporthallen, damit auch in der kalten Jahreszeit gekickt werden kann. Heute ist Fußball mit Abstand die wichtigste und beliebteste Sportart hier bei uns in Island
Es gibt auch einen biologischen Erklärungsansatz: In abgeschlossenen Lebensräumen sind die Kreaturen besonders stark und widerstandsfähig. Wissenschaftler nennen es das „Inselphänomen“.
Ich habe noch nie von diesem Phänomen gehört, aber es klingt plausibel. Ich würde noch einen historischen Aspekt ergänzen: Vor mehr als 1000 Jahren kamen die Wikinger hierher. Sie waren kleine Könige, groß und stark. Die Lebensbedingungen hier waren hart, so dass sie ihre Stärke ständig gefordert war. Ohne ihre Widerstandsfähigkeit gäbe es heute wahrscheinlich keine Zivilisation auf Island. Auf diese Leute reichen die Wurzeln aller Isländer zurück.
Entwickelt sich aus dieser Tradition auch ein gewisser Stolz?
Ja, natürlich! Wir sind eine sehr stolze Nation. Wir messen uns mit den Besten der Welt, mit England, Deutschland, Tschechien – und sind sehr geknickt, wenn wir verlieren. Echte Wikinger eben!
Wann wurde Ihnen erstmals bewusst, dass Sie auf einer Insel leben, die anders ist als der Rest der Welt?
Damit wird man spätestens in der Schule konfrontiert – vor allem mit unserer Geschichte, die ich eben erwähnte. Zudem merkt man allein an unserer Sprache, die sehr eigen ist, dass wir ein bisschen anders sind als der Rest (lacht). Aber wir sind zum Glück nicht isoliert, sondern sehr lernfähig – und das müssen wir auch sein, um aus unserer kleinen Gesellschaft heraus eine Brücke in die Welt zu schlagen.
Für Sie war der Fußball diese Brücke. Wie kamen Sie zum Sport?
Schon meine Eltern waren Sportler. Meine Mutter war eine sehr gute Handballerin, mein Vater in Estland sogar Fußballnationalspieler. Auch mein älterer Bruder war ein sehr guter Fußballer, er ging 1974 zu Celtic Glasgow. Ich war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt, und spätestens da war klar: In diese Richtung will ich auch gehen.
Das war vor mehr als 30 Jahren. Damals war Island noch ein Fußballentwicklungsland.
Ja, das stimmt. Wir hatten so gut wie keine Hallen, und wenn, dann waren sie gerade groß genug für ein Spiel Vier gegen Vier. Wir standen mit 60, 70 Jungs in der Halle – Sie können sich also ausrechnen, wie oft man da an den Ball kam (lacht)! Zum Glück ist der Winter durch den Golfstrom hier nicht so hart, wie Sie in Deutschland sich das vielleicht vorstellen. Wir konnten also ab und zu auch mal raus und dort Fußball spielen, meistens auf der Straße.
Libuda, Seeler, Müller – das waren die Helden der Straßenfußballer in Deutschland. Welchen Idolen haben Sie damals nachgeeifert?
Vor allem Hermann Gunnarsson. Er war eines unserer größten Talente, ein wahrer Alleskönner. Er war nicht nur Fußball‑, sondern auch Basketball- und Handballnationalspieler. Er war ein Riesenvorbild für uns alle.
Nahmen Sie auch die Stars vom europäischen Festland wahr, etwa George Best, Franz Beckenbauer oder Eusebio?
Na, klar! 1966 war Eusebio der große Star der WM in England, und kurz darauf spielte Valur Reykjavik im Europapokal gegen Benfica Lissabon. Alle waren in heller Aufregung. Im Stadion, das eigentlich nur 5.000 Zuschauer fasst, waren plötzlich viermal so viele (lacht)!
Sie selbst kamen erst mit 23 Jahren nach Europa.
Es gab schon vorher Anfragen aus Belgien und Holland, ich wollte aber erst meine Ausbildung zum Diplom-Sportlehrer beenden. Trotzdem wusste ich schon, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich ins Profigeschäft einsteigen würde.
1980 war es soweit, Sie gingen zu Borussia Dortmund. Wie war der Kontakt zustande gekommen?
Durch den Spielerberater Willy Reinke, der auch schon Kalle Rummenigge nach München vermittelt hatte. Er sah mich 1978 bei einem Länderspiel gegen Deutschland und ein Jahr später bei einem Europapokalspiel gegen den HSV. In beiden Spielen schoss ich je ein Tor und spielte ziemlich gut. Also lud mich Reinke nach Dortmund ein. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt zwar wegen des dunklen Winters auf Island seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gegen den Ball getreten und mich nur mit Volleyball fit gehalten, aber das Probetraining lief trotzdem perfekt. Udo Lattek fragte mich hinterher: „Wenn du jetzt nicht fit bist, wie bist du dann, wenn du fit bist?“ (lacht) Kurz danach habe ich meinen Vertrag unterzeichnet.
Udo Lattek war damals schon einer der erfolgreichsten Trainer der Welt.
Ah, Udo Lattek war einmalig! Wie er mit den Spielern umging, mit ihnen sprach, wie er sie motivierte! Am Spieltag hatte man keine Geduld, auf den Anpfiff zu warten, man wäre am liebsten zum Stadion gelaufen, so motiviert war man. Fantastisch, dieser Udo Lattek!
Sie waren der erste Isländer in der Bundesliga. Waren Sie ein Exot?
In gewisser Weise schon. Mein Vater schenkte mir damals zum Abschied ein Riesengemälde von einem isländischen Künstler. Es heißt „Die Invasion Germanias“ und zeigt einen Wikinger mit Helm, Rüstung und allem. So ungefähr sah ich auch aus, als ich nach Deutschland kam (lacht).
Was kam Ihnen andersherum an Deutschland exotisch vor?
Oh, es war alles so groß! Die Innenstädte, die Stadien – ich war überwältigt. Aber ich war nie nervös, wenn ich im Westfalenstadion spielte. Die Leute haben mich so toll empfangen und immer unterstützt. Vom Anpfiff bis zum Abpfiff habe ich nie Erschöpfung verspürt. Außerdem hatte ich mit Manfred Burgsmüller den besten Sturmpartner, den ich mir wünschen konnte: Ein Kämpfer, immer hungrig, auch im Training. Er hat mir geholfen und mir viel beigebracht.
Hatten Sie dennoch manchmal Heimweh?
Ehrlich gesagt nicht. Ich arbeite heute für ein deutsches Versicherungsunternehmen in Reykjavik, und wenn ich dienstlich nach Deutschland komme, dann bin ich zu Hause (seufzt). Ich vermisse Deutschland sehr.
Haben Sie damals die Winterpause in Island verbracht, oder sind Sie lieber in den warmen Süden geflogen?
Nichts gegen Spanien, aber die Weihnachtstage sind herrlich in Island, das wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Haben Sie Ihre Mannschaftskollegen auch einmal nach Island eingeladen?
Hin und wieder kommt einmal ein ehemaliger Mitspieler nach Island. Dann ist es in diesem kleinen Land ganz einfach, er braucht nur zu fragen: „Wo ist denn der Atli?“, und schon weist ihm jemand den Weg (lacht).
Auch in Deutschland sagt Ihr Name vielen noch etwas – vor allem wegen eines Spiels: Am 6. Juni 1983, Sie spielten mittlerweile für Fortuna Düsseldorf, schossen Sie fünf Tore gegen Eintracht Frankfurt.
Das war ein toller Tag. Ich hatte schon zwei Tore geschossen und dachte, jetzt könnte ich ja der Abwehr ein bisschen helfen. Hin und her, vor und zurück – das war ja ohnehin meine Art zu spielen. Aber Willibert Kremer, der Trainer, schrie mich an: „Atli! Ab nach vorne!“ Ich war also mehr oder weniger gezwungen, noch mehr Tore zu machen (lacht). Und Sie haben Recht: Ich werde vor allem mit diesem Spiel in Verbindung gebracht. Gerade neulich war ich in Düsseldorf im Stadion, und da sprach mich ein kleiner Junge an: „Bist du der, der fünf Tore geschossen hat?“
Hat Ihr Landsmann und Kollege Asgeir Sigurvinsson Ihnen damals gratuliert?
Natürlich. Wir haben uns gleich am nächsten Tag bei einem EM-Qualifikationsspiel gesehen.
Sigurvinsson war ein neuer isländischer Spielertyp, klein, wendig, technisch hochbegabt. Hat er dem isländischen Fußball den Weg in die Moderne geebnet?
Das kann man so sagen. Sigurvinsson war in Island weltberühmt (lacht), man nannte ihn den „Eismeer-Zico“. Viele junge Leute haben damals wegen ihm angefangen, Fußball zu spielen, wahrscheinlich auch Eidur Gudjohnsen vom FC Barcelona, unser derzeit bester Mann.
Noch ist Gudjohnsen der einzige Isländer von Weltruf. Halten Sie es für möglich, dass Island zu den großen Fußballnationen aufschließt?
Wir haben fast 70 Profis in den europäischen Top-Ligen. Das hat auch die Nationalmannschaft vorangebracht. Aber ob wir zu Deutschland, Frankreich und Italien aufschließen können? Dazu will ich Ihnen mal eine Geschichte erzählen: Als ich noch Nationaltrainer war (1999 bis 2003, Anm. d. Red.) spielten wir einmal gegen Brasilien. Wir traten ohne sieben Stammspieler an, weil sie noch mit ihren Vereinsmannschaften unterwegs waren. Da sagte der brasilianische Trainer zu uns: „Seid nicht frustriert, ich muss auch auf fünf Spieler verzichten.“ Und mein Co-Trainer antwortete: „Ja, kann sein. Aber wenn man in Island einen linken Verteidiger braucht, dann hat man einen guten, einen, mit dem man den guten ersetzen kann, und beim dritten haben wir schon ein Problem. Ihr habt 200.000 linke Verteidiger, und erst der Zweihunderttausendunderste ist ein etwas schwächerer.“ Er hatte vollkommen Recht! Um Ihre Frage zu beantworten: Wir sollten uns an Finnland oder Nord-Irland messen. Irgendwann rutscht eine von diesen Nationen in ein großes Turnier. Vielleicht haben wir das Glück.
Eidur Gudjohnson und Atli Edvaldsson – ein Sturm, mit dem europäische Abwehrspieler ihre liebe Mühe hätten. Bedauern Sie, dass Sie nicht mehr aktiv sind?
Ja und nein. Wenn ich sehe, was heute verdient wird, dann schon. Vor einigen Jahren sagte der Chef der NBA, er wolle Basketball zum beliebtesten Sport der Welt machen – ein Warnschuss für die Leute von der FIFA. Seitdem haben sie noch mehr dafür getan, den Fußball zu kommerzialisieren. Aber ich befürchte, dass bei all dem Kommerz eines zu kurz kommt: das Herz. Und vor allem wir Isländer brauchen das Herz, um gut zu spielen.
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