Ende 2020 stand Magdeburg vor dem Abstieg, und Baris Atik war vereinslos. Zwei Jahre später schoss er den FCM zurück in die 2. Bundesliga. Die Geschichte eines doppelten Comebacks.
Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #247. Das Heft gibt’s hier im Shop.
Baris Atik war überall. Er hatte 85 Minuten Fußball gespielt. Gebetet, gedribbelt, gepasst, und natürlich hatte er, Ehrensache, mal wieder zwei Tore vorbereitet. Nach dem Abpfiff rannte er zur Haupttribüne, wo seine Frau ihm sagte, dass sie stolz auf ihn sei. In der Kabine feierten sie weiter, und dann rief einer: „Auf zum Block U!“, also liefen sie gemeinsam in die Fankurve. Sie hüpften auf dem Podest des Capos. Sie machten Selfies, tausende Terabytes, ach was, tausende Zettabytes an Daten. Sie zupften an ihm, beklatschten ihn, eine Anhängerin hielt ihm sogar ein Ultraschallbild zum Unterschreiben hin. Er, der schmächtige Junge aus der Pfalz, 1,69 Meter, ging fast unter in diesem stürmischen blau-weißen Meer. Baaaaaaris! Aber dann, nach fast vier Stunden Volldampf, konnte er nicht mehr. Eingequetscht zwischen den Fans schaute er sich hilfesuchend um, bis zwei Ordner die Situation erkannten und den Spieler zurück in die Katakomben zogen. Hinsetzen, durchatmen, bevor es weiterging bis tief in die Nacht. Barismania in Magdeburg.
Das war am 24. April 2022. Der 1. FC Magdeburg gewann an jenem Tag 3:0 gegen Zwickau und schaffte drei Spieltage vor Saisonende den Aufstieg in die zweite Liga. Es war der Höhepunkt einer außergewöhnlichen Reise. Für den Verein, der vor anderthalb Jahren kurz vor dem Gang in die Regionalliga stand. Aber auch für Baris Atik, der vor anderthalb Jahren noch arbeitslos war. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Atik den taumelnden Riesen und einstigen Europapokalsieger wieder zum Leben erweckt hat. Aber auch andersherum hat der Riese den kleinen Dribbler zu einem fulminanten Neubeginn verholfen. Wie kam es zu diesem doppelten Comeback? Und warum zeigt Atik erst jetzt, mit 27 Jahren, wie gut er Fußball spielen kann?
Ein Tag vor dem Spiel, elf Uhr am Trainingsplatz hinter der Arena, die bei den meisten Fans Heinz-Krügel-Stadion heißt, nach dem Erfolgstrainer der Siebziger. Es ist ein milder Apriltag, die Sonne scheint, rund zwanzig Anhänger wollen sich das Training der ersten Mannschaft anschauen. Baris Atik hat den Platz noch nicht betreten, trotzdem ist er längst da. Die Jugendlichen tragen Shirts mit seinem Namen, eine junge Frau hat sogar die gleiche Frisur, Seiten kurz, das Haupthaar zu einem kleinen Dutt gebunden. „Manchmal ist er zu eigensinnig“, sagt sie. „Aber er ist halt der Beste, viel zu gut für die Dritte Liga. Hast du sein Freistoßtor gegen Dortmund gesehen?“ Auch die Älteren nicken anerkennend. „Einer der besten fünf Spieler, die hier je gespielt haben. Natürlich hinter Streich, Pommerenke und Steinbach“, sagt einer, der seit 60 Jahren zum FCM geht und so ziemlich alles erlebt hat. Europapokalsieg 1974 gegen Milan. Abstiege nach der Wende. Spiele gegen Neustadt an der Dosse, Oberliga Nordost. Das Pokalwunder gegen die Bayern. Nun soll also zum zweiten Mal der Aufstieg in die zweite Liga gelingen. Der FCM steht vor dem morgigen Spiel gegen Zwickau auf dem ersten Platz. „Diese Saison hat viel mit Atik zu tun“, sagt das FCM-Fossil, das ein bisschen Sorge hat, der neue Star könnte nächste Saison wieder weg sein. „Er sollte dran denken, dass er hier der Chef sein kann, hier lieben ihn die Fans. War ja nicht überall so.“
Dann eine Schrecksekunde. Kurz vor dem Trainingsende knickt Atik um und humpelt zur Kabine. Gerade jetzt, einen Tag vor einem der wichtigsten Spiele seiner Karriere. Eine Stunde später aber schon die Entwarnung. Atik, dunkelblaue Jeans, hellblaue Trainingsjacke, wartet am Domplatz. „Der Fuß ist okay, ich kann spielen“, sagt er, und dann lächelt er, denn nun möchte er ein bisschen aus seiner turbulenten Karriere erzählen.
Vor acht Jahren galt Atik als eines der größten Offensivtalente in Deutschland. Er war ein Feingeist auf dem Platz, einer für die genialen Momente. Aber er war auch einer, der früh Verantwortung übernehmen musste. Sein Vater verließ die Familie und zog in die türkische Heimat, als Baris Atik ein Jahr alt war. Die Mutter blieb alleine mit vier Kindern zurück in einer Siedlung im pfälzischen Frankenthal; mit zwei Brüdern teilte sich der junge Baris ein Zimmer.