Heute wird das „San Siro“ noch einmal beben, wenn 13.500 Frankfurt-Fans das Mailänder Mammut-Stadion rocken. Doch schon bald muss die Kathedrale weichen.
Kaum ein Stadion ist spektakulärer, geschichtsträchtiger und bekannter als das 1926 errichtete Stadio Giuseppe Meazza, dieser noch immer so futuristisch anmutende Beton-Gigant im Mailänder Stadtteil San Siro. Kaum eine Arena hat so viel Charakter, so viel Profil: Die vier Türme mit den spiralförmigen Aufgängen, die steilen Ränge, die uralten Toilettenanlagen, in denen man als Otto-Normal-Fan auch die großen Geschäfte im Stehen erledigen muss. Das Flair, die Aura, der Duft der Jahrzehnte. Der Zahn der Zeit. Hier und da bröckelt und schimmelt es ein bisschen. Da und dort ist der Lack ab.
Glaubt man der seriösen italienischen Tageszeitung „La Repubblica“, ist das Ende dieser alt-ehrwürdigen Fußball-Kathedrale längst besiegelt. Das „San Siro“, wie vor allem die Milan-Fans das Stadion nennen, weil Namenspatron Giuseppe Meazza (spielte für Inter und den AC) in ihren Augen ein „Interista“ war, soll abgerissen werden. Fast 100 Jahre Sporthistorie – verschüttet unter Trümmern. Ersetzt werden soll die Kultstätte durch einen schnöden Arena-Bau mit angeschlossener Shopping-Mall und Kino. Wie originell.
Ein erfolgsverwöhntes Stadion
Was hat dieses 80.000 Zuschauer fassende Giuseppe-Meazza-Stadion nicht alles erlebt? „Heute ist ein guter Tag, um Geschichte zu schreiben!“, führten die Bayern-Fans am 23. Mai 2001 ihrer mitgereisten Mannschaft vor Augen. Und diese verstand. „Kahn! Die Bayern!“, schrie Marcel Reif ins Mikro, als Valencias Mauricio Pellegrino im entscheidenden Elfmeterschießen am „Titan“ zerschellte. Für die Münchner war es der lang ersehnte vierte Champions-League-Triumph ihrer Klubhistorie, nach 25 Jahren Flaute. Für das erfolgsverwöhnte Meazza hingegen war es nur eines von vielen großen Endspielen in seiner Geschichte.
Vier Jahre zuvor, am 21. Mai 1997, erlebte eine andere deutsche Kommentatoren-Legende hier eine Sternstunde: „Drin das Ding, und der FC Schalke hat es!“, brüllte Werner Hansch, nachdem sein „Herzensklub“ dem Gastgeber Inter Mailand im Elferschießen den UEFA-Pokal entrissen hatte. Marc Wilmots verwandelte den alles entscheidenden Schuss vom Punkt, mehr als 30.000 Gäste-Fans weinten vor Freude und ein ganzes Land bejubelte den bis heute letzten deutschen Triumph im Kampf um die silberne Blumenvase. Der UEFA-Pokalwettbewerb, Vorläufer der Europa League, war schließlich noch richtig was wert.
Doch Schalkes Coup ist schon über 20 Jahre her. Und bald wird auch die Stätte dieses Triumphes verschwunden sein. Niedergerissen! Die traurige Wahrheit ist: Das Giuseppe-Meazza-Stadion ist zu alt, zu kaputt, zu unkomfortabel, zu teuer im Unterhalt, zu wenig Einnahmen-trächtig und vor allem: viel zu groß! In den vergangenen Jahren garantierten nicht einmal mehr die Mailänder Derbys automatisch ein volles Haus.
Deshalb, so „La Repubblica“, seien sich die zerstrittenen Lokalrivalen Inter und AC Mailand ausnahmsweise einig: Eine neue, 600 Millionen Euro teure Arena soll entstehen, in Hörweite des alten Stadions. Für rund 60.000 Zuschauer. Und natürlich für jede Menge Businesskunden, denn die bringen das große Geld.
Die Mailänder Klubs müssen mit der Zeit gehen
Angeblich seien Vertreter beider Klubs bereits in den Vereinigten Staaten gewesen, um sich ein paar der modernsten Sportstätten jenseits des Atlantiks anzuschauen. Die neue Arena zu Mailand, so „La Repubblica“, solle das modernste Stadion Europas werden, wenn nicht der Welt. 2023 soll das Ding fertig sein. Gut 100 Meter entfernt, am „San Siro“, dürfte dann die Abrissbirne kreisen.
Noch aber steht dieses große alte Amphitheater – und zwar sinnbildlich für den italienischen Fußball: grandiose Geschichte, viel Pathos und alte Pracht, ziemlich triste Gegenwart. Außer Juventus Turin mit seinem 2011 eröffneten „Juventus Stadium“ (41.000 Plätze) hat bislang kein Verein den Sprung in die Moderne bewältigt. Wollen der FC Internazionale und der AC Milan jemals wieder den Anschluss an den Fiat-Klub herstellen, müssen sie mit der Zeit gehen und das „San Siro“ hinter sich lassen. Arrivederci, du Kathedrale des Fußballs! Lebewohl, Schauplatz epochaler Schlachten.
Fast alle großen Namen des Welt-Fußballs
Hier fegte ein entfesselt aufspielender Lothar Matthäus bei der Weltmeisterschaft 1990 die Jugoslawen vom Platz – der Grundstein für den späteren Titelgewinn des DFB-Teams. Hier rotzte Frank Rijkaard im Achtelfinale dem armen Rudi Völler in die Locken. Hier rannte „Pferdelunge“ Jürgen Klinsmann in seinem wohl besten Länderspiel die Holländer nieder. Hier verdienten fast alle großen Namen des Welt-Fußballs ihre Lira oder Euro: Trapattoni, Liedholm, Boninsegna, Gullit, Van Basten, Brehme, Baresi, Bergomi, Bierhoff, Maldini, Ronaldo, Ronaldinho, Rivaldo, Seedorf, Beckham, Zanetti, Inzaghi, Kaka, Zlatan, Merkel..
„Heute ist ein guter Tag, um Geschichte zu schreiben!“ Dieser Satz gilt auch für Eintracht Frankfurt. Im Rückspiel des Europa-League-Achtelfinales gegen Inter können die Riederwälder ihren allerersten Sieg im Stadio Giuseppe Meazza feiern. Gleichzeitig ist dies auch ihr erster Auftritt dort. Viele weitere wird es nicht mehr geben.