Den Namen Maurizio Viscidi kennen nur wenige, dabei ist der 58-Jährige das Mastermind hinter der Renaissance des italienischen Fußballs. Spätestens 2022 soll Italien dank ihm wieder einen Titel holen.
Er sieht aus wie Arrigo Sacchi, er spricht wie Arrigo Sacchi, er denkt wie Arrigo Sacchi: absolut progressiv. Kein Wunder, Maurizio Viscidi war der beflissenste Schüler des großen „Mister“, der mit Milan zweimal den Henkelpott gewann und nebenbei einen ganzen Sport revolutionierte. Sacchis innovativer Mix aus flexibler Raumdeckung, mutigem Nachvorne-Verteidigen (Pressing) und einstudierten Angriffsspielzügen auf imaginären Schienen gilt bis heute als Meilenstein in der Entwicklung des Fußballs vom einfachen Spiel zum hochkomplexen Strategiewettbewerb. Dabei, und das war das Schönste daran, mutete Sacchis Fußball stets kinderleicht an.
Maurizio Viscidi also ist das neue Superhirn des italienischen Fußballs. Was vor gut einem Jahrzehnt kaum abzusehen war: Von 2007 bis 2010 hockte der bis dato mäßig erfolgreiche Zweit- und Drittligatrainer zu Hause neben dem Telefon und wartete auf den erlösenden Anruf irgendeines Klubchefs. Doch kein Verein wollte die Dienste des einstigen Amateurkickers, dem der wenig schmeichelhafte Ruf eines Theoretikers anhaftete – nicht ganz zu Unrecht übrigens: „Ich habe während der Arbeitslosigkeit angefangen, Bücher zu lesen und zu schreiben“, erzählte der Interview-scheue Viscidi kurz vor dem Corona-Lockdown dem Onlinemagazin ultimouomo.com.
Im Spätsommer 2010 kam endlich der erlösende Anruf. Im Display stand: „Arrigo“. Arrigo Sacchi war soeben zum Nachwuchskoordinator des nationalen Verbandes ernannt worden. Aus den „Trümmern von Johannesburg“, wo Titelverteidiger Italien bei der WM 2010 als Gruppenletzter vorzeitig ausgeschieden war, sollte der „Mister“ ein neues Haus bauen. Sacchi spürte: Er würde viel Zeit benötigen – und die Hilfe von Maurizio Viscidi. Der lauschte während der gemeinsamen Jahre beim italienischen Verband nicht bloß Sacchis Vorträgen. Er hinterfragte dessen Gedanken, diskutierte sie mit dem Meister und entwickelte sie fort. 2014 ging Sacchi, doch Viscidi blieb beim Verband – und wurde 2016 selbst zum Nachwuchskoordinator ernannt.
Seither hat der begnadete Fußball-Philosoph die Arbeit bei den italienischen Nachwuchs-Nationalmannschaften von der U15 bis zur U21 entscheidend geprägt. Maurizio Viscidi befehligt ein Heer von über 50 Trainern und Scouts für sieben Teams. Seine Marschroute für alle lautet: „Calcio cognitivo“, frei übersetzt: intelligenter Fußball. Dahinter steckt ein hochkomplexes Konzept, das alte italienische Erfolgsrezepte mit völlig neuen Denkmustern kombiniert. „Calcio cognitivo“ ist eine Kombination aus Ballbesitz- und Umschalt-Fußball, kurzum: Italiens Teams sollen beides beherrschen und je nach Situation praktizieren. Dazu braucht es technisch herausragende, hoch athletische Spieler mit weit überdurchschnittlicher Spielintelligenz.
Die sportliche Weiterentwicklung der Junioren-Auswahlen ist dabei nur Viscidis vordergründige Aufgabe. Seine eigentliche Mission ist die Wiederbelebung der zwischenzeitlich totgeglaubten A‑Nationalmannschaft. Maurizio Viscidi soll sich nicht nur darum kümmern, dass die „Squadra Azzurra“ regelmäßig mit frischem Blut versorgt wird. Er denkt auch täglich darüber nach, wie der Nachschub an Talent immer besser wird. Und das funktioniert offenbar so gut, dass viele Beobachter den nächsten EM- oder WM-Titel für Italien nur als eine Frage der Zeit erachten.