Ist Fußball wirklich Ablenkung in pandemischen Zeiten oder nur Kicken zum Selbsterhalt? Gestern verloren die Bayern in Kiel und gaben damit die Antwort. Ein Dankeschön.
Als Thomas Müller nach Abpfiff vor dem Mikrofon stand und sich mit ARD-Reporterin Valeska Homburg darüber stritt, ob sie gelacht hatte oder nicht und wie die Stimmung bei den Bayern sei nach dem Pokal-Aus in Kiel, dröhnten von außerhalb dutzende Autohupen. Die Norddeutschen, dem Klischee nach eigentlich zurückhaltende Menschen, hatten sich in ihre Karren gesetzt, um vor dem Stadion einen Autokorso zu veranstalten. Und alle, die diesen Pokalabend verfolgt hatten, die Müller vor dem Mikrofon und Manuel Neuer auf dem Gang in die Kabine sahen, die sahen, wie sich die Kieler nach dem letzten Elfmeter von Fin Bartels in den Armen lagen, fragten sich: Was wäre hier heute bloß los gewesen mit Zuschauern im Stadion?
Dabei hatte der Sender ein viel interessanteres Interview zu bieten als dieses Missverständnis zwischen Müller und der Journalistin. Sandra Maischberger hatte Jens Spahn zu Gast. Und der Gesundheitsminister wollte Auskunft geben zur Lage im Allgemeinen und zum Impfstoff im Speziellen. Er durfte das auch tun – weit nach Mitternacht. Denn bis dahin zeigte die ARD etwas anderes und die Ausstrahlung der Talkshow musste warten. Die Menschen wollten sehen, wie die Bayern in Kiel scheiterten.
Möglicherweise hätte es die Bayern gar nicht gebraucht, um dieser Kieler Mannschaft den Einzug ins Achtelfinale zu wünschen. Weil Hauke Wahl und Stefan Thesker gestern Abend so abgeklärt verteidigten, dass ihnen sogar Bastian Schweinsteiger nach einer Stunde eine „überragende” Leistung bescheinigte. Und – natürlich – Fin Bartels, der mit 33 Jahren nicht mehr spielen müsste bei einem Zweitligisten, der das bei seinem Jugendverein aber offenbar sehr gerne tut und also mit 33 Jahren das vielleicht größte Spiel seiner Karriere erlebte. Ob Torwart Ioannis Gelios, der den letzten Elfmeter hielt. Janni Serra, dessen Vater ihn jahrelang förderte und früh verstarb, der bei seinem verwandelten Elfmeter die Hand sofort gen Himmel richtete. Oder Jae-Sung Lee, dem Schlüsselspieler mit Stirnband, bei dem sich seit drei Jahre alle fragen, was verdammt er in der zweiten Bundesliga sucht. Ausreichend Geschichten für ein Pokalmärchen.
Und trotzdem würde heute kaum noch jemand über die Kieler sprechen, wenn sie gestern statt der Bayern – sagen wir mal – den VfL Wolfsburg aus dem DFB-Pokal geworfen hätten.
Als erste Profisportart Europas durfte die Bundesliga ab dem 16. Mai wieder spielen. Eine Sonderrolle in einem Land, in dem viele Betriebe Kurzarbeit angemeldet hatten. „Die Politik vertraut uns und wir und vor allem die Spieler müssen jetzt Vorbild sein“, mahnte DFL-Chef Christian Seifert und erklärte, die Saisonfortsetzung sei „für die Fans aller Klubs eine ganz wichtige und positive Nachricht.“ Und Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke frohlockte: „Fußball ist eine Möglichkeit, Millionen Fans wieder etwas mehr Lebensfreude zu geben.”
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Was natürlich Schwachsinn ist. Denn natürlich beeinflusst es die Lebensqualität nicht sonderlich, wenn an einem Samstagnachmittag im Januar, während Geschäfte geschlossen und Bewegungsradien gezogen werden, in einem leeren Stadion Köln gegen Augsburg spielt. Was für einen Hoffnungsschimmer soll es da geben, wenn Schalke zum zwanzigsten Mal verliert? Weshalb auch Watzke kürzlich im Kicker-Interview sagte: „Mittlerweile deprimiert mich die Atmosphäre von Monat zu Monat mehr. Es fehlt so viel von dem, was dich als Fußballfan ja auch ein Stück weit süchtig macht.“
Ohne das Stadionerlebnis, ohne die Zuschauer, wird den Menschen Fußball zunehmend egal. Wenn der Fußball nichts zurückgibt, existiert er nur für sich selbst. Und dann wäre es bald auch egal, ob sie noch spielen oder, weil aktuell in Talkshows über die Pflicht zur Heimarbeit gesprochen wird, einfach mal pausieren. Gut also, dass es die Bayern gibt und dieses Spiel gestern in Kiel.
Denn der Mensch ist ein seltsam einfaches Wesen. Es fällt ihm oft leichter, sich an den Misserfolgen anderer aufzurichten als sich durch fremde Erfolge zu motivieren. Weil sich dieses Ha, guck an, denen geht es noch viel beschissener, im ersten Moment eben besser anfühlt. Gestern Abend kam viel zusammen: Freude für den Außenseiter, Überraschungsmomente, Spott für den scheiternden Favoriten.
Japanische Forscher haben herausgefunden, dass Schadenfreude die Aktivität im zentralen Striatum stimuliert. Ein Effekt, der normalerweise nur durch Kokain, Sex und Glücksspiel hervorgerufen werden kann. Deshalb schauen wir so gerne Pannenvideos. Besonders stark wirkt dieses Glücksgefühl, wenn Menschen eine besondere Abneigung gegen den Verlierer empfinden. Und noch stärker wird es, wenn der Verlierer normalerweise überlegen ist.
So gesehen haben die Bayern gestern ihren Dienst an der Gesellschaft erfüllt. Wer spricht noch darüber, dass diese Mannschaft im Sommer die Champions League und damit das Triple gewonnen hat? In dunklen Zeiten funktioniert Häme besser als Mitfreude für den Gewinner. Und vielleicht saßen gestern auch ein paar Pfleger/innen, Polizisten/innen, Menschen, die den Laden gerade zusammenhalten, vor dem Fernseher. Mit zitternden Knien und gewaschenen Händen im Gesicht, um mitzufiebern, wenn die Bayern ganz unerwartet einen vor den Latz bekommen. Was ist dagegen schon Applaus von den Balkonen?
Fans des FC Bayern werden nicht verstehen, warum die Missgunst, die ihnen entgegenschlägt, so wichtig für uns, die anderen, ist. Ihre Gehirne haben sie gestern Abend auch nicht an Sex, Kokain und Glücksspiel erinnert. Alle anderen saßen für zwei Stunden vor dem Fernseher, gemeinsam und jeder für sich allein, und vergaßen für einen Moment die Pandemie. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hat der Fußball mal wieder seinen Zweck erfüllt.