In der allerersten Champions-League-Saison scheiterte der VfB Stuttgart in einem kuriosen Geisterspiel. Und Andy Buck wurde vom Helden zum Sündenbock. In seinem nun erscheinenden Buch „Turbo“ blickt er zurück auf das Duell mit Leeds United. Ein Auszug.
In der zweiten Hälfte belauern wir uns wie zwei alte Boxer. Keiner will einen Fehler machen. Alle wissen: Wer das nächste Tor schießt, wird gewinnen.
Eckball für uns, eine Viertelstunde vor Schluss. Ich sichere hinten ab wie bei allen unseren Ecken. Guido Buchwald und Slobodan Dubajic traben zum Kopfball nach vorne. Leeds wechselt, Eric Cantona muss vom Feld. Der Mann ohne Schmerzen ist müde. Ich sehe, wie ein Betreuer die Nummer 12 hochhält. Der neue Spieler sagt mir nichts. Ein blasser Typ mit einem Bürstenschnitt und einem komischen Laufstil.
Eric Cantona am Ball. Für ihn wird später Carl Shutt eingewechselt, Schütze des entscheidenden Tores.
‚Micha!‘, höre ich Dieter Hoeneß von außen brüllen. Das Kopfballungeheuer in ihm tobt. Der frühere Nationalstürmer scheint kurz davor, sich selber einzuwechseln. Daum sitzt neben ihm, starrt hierhin und dorthin.
Die Ecke kommt herein. Geht weit über alle Köpfe. Ein Schuss von Jolly wird abgeblockt und plumpst Dorigo vor die Füße. Der guckt kurz hoch und drischt den Ball in meine Richtung. Der neue Stürmer kommt angerast und kriegt einen Fuß dran, aber ich habe drei, vier Meter Vorsprung. Ich will den Ball mit einem kurzen Kontakt an ihm vorbeilegen, aber er blockt ihn, ist schon an mir vorbei, im vollen Sprint. Er hat nur noch Eike vor sich und Günther Schäfer, der aus der Mitte angerannt kommt. Ich laufe mit, rechne mit dem Schlimmsten und hoffe noch auf Rettung, ich sehe die dunkle 12 auf dem gelben Trikot tanzen, eine Körpertäuschung, ein Schuss, an Schäfers Grätsche vorbei und durch die Beine von Eike ins Netz.
Ich laufe dem toten Ball hinterher, nutzlos, unter Schock, die Hände am Kopf, wie jemand, der gerade eine kostbare Vase zertrümmert hat.
Wie in Trance spiele ich die Partie zu Ende. Golke schießt noch an den Pfosten. Aber ich weiß, dass es vorbei ist. Ich weiß es seit dem Moment, als ich den Ball verloren habe. Ich wusste, er wird treffen, es ist vorbei, und ich habe es verbockt.
Leeds jubelt. Fritz Walter und der VfB Stuttgart nicht.
Im Flugzeug nach Stuttgart herrscht Totenstille. Petra und ich gehen mit den Letzten an Bord. Als wir uns den Gang entlangschlängeln, starre ich auf den Boden. Ich will keinem in die Augen sehen. Es kommt mir vor, als würden mich alle anglotzen. Endlich sind wir bei unserer Reihe. Petra hält meine Hand. Wir sprechen kein Wort. Immer wieder sehe ich den Ball vor mir liegen. Denke: Hau ihn einfach weg. Mache wieder das Falsche.
Tief in der Nacht landen wir in Stuttgart. Keiner wartet auf uns. Ich sollte keine Zeitungen lesen und lese sie doch. Die Schlagzeilen sind vernichtend: Vom Helden zum Verlierer … Buck verhilft Leeds in die nächste Runde … Nach dem Bock: Daum droht Buck … Ich solle mich jetzt bloß nicht hängenlassen, lese ich im kicker. Sonst werde mir der Trainer in den Hintern treten.
Den Journalisten habe ich die üblichen Phrasen in die Blöcke gesprochen: Werde aus dem Fehler lernen. Leben geht weiter. Bin so motiviert wie nie. Und so weiter. Aber ich glaube selber nicht an meine Sprüche. Mein Kopf ist voll dunkler Gedanken.
Der ominöse vierte Ausländer von Leeds verfolgt uns. Der deutsche Meister wird zur Lachnummer. Die Stimmung im Team ist schlecht. Wir verlieren mehr als wir gewinnen. Daum setzt mich auf die Bank. Vielleicht war alles doch nur ein großes Missverständnis?