In der allerersten Champions-League-Saison scheiterte der VfB Stuttgart in einem kuriosen Geisterspiel. Und Andy Buck wurde vom Helden zum Sündenbock. In seinem nun erscheinenden Buch „Turbo“ blickt er zurück auf das Duell mit Leeds United. Ein Auszug.
Beim Nachmittagstraining stürzen sich die Medien auf Christoph Daum. Kennt der VfB die Regeln nicht? Wie kann so etwas passieren? Die Häme ist grenzenlos. Die Stuttgarter Zeitung schreibt: ‚Wer sich mit Real Madrid messen möchte, darf nicht wie der SV Hintertupfingen handeln.‘ Daum stellt sich, antwortet auf alle Fragen. Aber ich merke, wie er leidet.
Samstags tagt die Disziplinarkommission der UEFA, nach vier Stunden gibt es eine Entscheidung: Das zweite Spiel wird statt 4:1 mit 3:0 für Leeds gewertet. Heißt nach unserem 3:0 im Hinspiel: Wir müssen ein drittes Mal gegeneinander antreten. Es gibt ein Entscheidungsspiel auf neutralem Platz, am kommenden Freitag schon, in Barcelona.
„Ich muss nicht nervös sein“
In aller Eile wird der Trip nach Katalonien organisiert, am Mittwochmorgen geht es los. In Barcelona residieren wir nicht weit vom Stadion, im Hotel Rey Juan Carlos I., einem fünfzehnstöckigen Fünf-Sterne-Tempel aus viel Stein und noch mehr Glas. Pool und Palmen. Das Programm ist bunt: Ein Ausflug zum Meer, eine Runde Golf, ein Flamenco-Abend mit ein paar eiskalten Cervezas und Tanzeinlage auf offener Bühne. Wir sollen, wie die schöne Fußballerfloskel geht: den Kopf frei kriegen.
Die Spanier interessieren sich kaum für uns und unser Spiel des Jahres. Wir bewegen uns wie die Touristen. Machen sogar einen Ausflug zum großen Fußball. Sitzen zusammen mit 100.000 Fans im Camp Nou, dem grandiosen Stadion des FC Barcelona, das ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Fünf steile Ränge, wie eine gigantische Freiluftoper. Ich sitze mit großen Augen da und sauge alles auf. Kann den Blick nicht vom Spielfeld abwenden. Es ist viel breiter als die meisten. Als würde der große Fußball auch mehr Raum fordern. Nicht nur das. Es wirkt wie für mich gemacht. So viel Platz für einen schnellen Flügelspieler, es ist perfekt.
48 Stunden später stehen wir im gleichen Stadion unten im Kabinengang. Wir spielen ganz in Rot, Leeds in Kanariengelb. Ich bin ganz ruhig. Fühle mich so gut wie nie zuvor. Mein Kumpel Uwe Schneider tippt mir auf die Schulter. ‚Was ist los mit dir?‘, fragt er mich. ‚Wie kannst du jetzt noch so lässig drauf sein? Vor so einem Spiel!‘ Er ist völlig fassungslos. ‚Ich muss nicht nervös sein‘, sage ich ruhig. ‚Ich weiß, das wird mein Spiel!‘
Wir laufen ins Stadion ein. Ich betrete als Letzter den dichten, grünen Rasen. Die riesigen Ränge sind fast leer. Von 100.000 Plätzen müssen über 90.000 frei sein. Ein Geisterspiel. Am Spielfeldrand blinken einsam die Fernsehkameras von RTL. Ich winke hinauf zur Haupttribüne. Petra sitzt da mit einer Handvoll weiterer Spielerfrauen. Auch Ursula Daum ist nachgereist, als moralische Stütze für unseren gebeutelten Coach. Mittags hat Daum noch mal an meine Hotelzimmertür geklopft, mich ein letztes Mal eingeschworen. ‚Andy, das wird ein Spiel, das dir liegt. Viel mehr noch als in dem engen Stadion in Leeds. Du wirst deine Chancen kriegen!‘
Es geht los. Mit der ersten Ballberührung trete ich gleich an, ziehe nach innen und werde von zwei Spielern in die Zange genommen. Kurz danach lasse ich mit einer schnellen Finte Dorigo ins Leere rutschen. Ich fühle mich gut. Mein Spiel, denke ich, mein Spiel. Dann schießt Gordon Strachan aus dem Nichts das 1:0 für Leeds. Fünf Minuten später bringt uns André Golke mit einem Kopfball zurück ins Spiel. Mit 1:1 geht es in die Pause.
Nicht einmal 10.000 Zuschauer sind ins Camp Nou gekommen