In München feiert ein Theaterstück über Philipp Lahm Premiere. Es ist keine Heldengeschichte, sondern ein Lehrstück über den modernen Fußball – und das Leben selbst.
Wie Spieler wirken, bestimmen auch Journalisten. Deshalb trifft Lahm im Stück ständig auf Reporter, die das Bild von ihm formen. Überaus fantasielose Reporter. Mit einem streift er über den Münchener Nordfriedhof. Zwischen den Gräbern antwortet er mit Null-Sätze auf Null-Fragen.
„Herr Lahm, was ist ihr Lieblings-Jahrzehnt?“
„Eindeutig die Zehner-Jahre. Und die Nullerjahre.“
Lahms Zeitrechnung beschränkt sich auf seine Karriere, ein Fußballerleben ohne Konflikte und Skandale. Ein Leben, das behütet als Sohn eines Fernmeldetechnikers und einer Turnlehrerin begann und danach immer ein bisschen besser wurde. Von seinem Jugendverein, dem FT Gern, wechselte er in die Jugend des FC Bayern, ließ sich später nach Stuttgart ausleihen. Als er zurückkehrte wurde er Stammspieler, Nationalspieler, Kapitän, Weltmeister. Und dann – bevor der Absturz, ein kaputtes Knie oder eine Insolvenz alles kaputt machen konnte – sagte Lahm: Es ist Schluss. Ich habe alles erreicht. Im Stück sagt er, wenn andere Karrieren einem Boxkampf gleichen, gleicht seine einem Aquarium.
„ER BENUTZT EIN GRANATAPFEL-SPÜLMITTEL UND EINEN SCHWAMM IN DER FORM EINES IGELS!“
In diesem Aquarium schwimmt er wie ein ahnungsloser, aber glücklicher Goldfisch die Stationen seines Lebens ab. Vor dem Trainingslager in Katar informiert er sich beim Auswärtigen Amt über die Reisebedingungen. Alles okidoki. Weil ihm Worte wie „Korruption“ nicht begegnen, sucht er auch nicht nach „Menschenrechtsverletzungen“. Stattdessen spielt er Fußball, sagt Nichts in die Notizblöcke der Journalisten und geht anschließend unter die Regenwalddusche. 37 Grad, herrlich körperwarm. Am nächsten Tag doziert Lahm den Neuzugängen des FC Bayern, was ihn so „reich, soft und glücklich“ macht: „Das Geheimnis, ein gutes Leben zu führen, liegt darin, sich von den allermeisten Dingen fernzuhalten.“
„Philipp Lahm“ ist ein Ein-Mann-Stück. Nur einmal, kurz vor dem Ende, bricht Regisseur Robert Gerloff damit. Er lässt einen Autor auftreten, der vom indonesischen Kultusminister den Auftrag bekommt, ein Stück über Philipp Lahm zu schreiben, der in Indonesien sehr beliebt ist. Der Autor versucht, Lahms Leben in irgendein dramaturgisches Konzept zwängen. Es geht nicht, es gibt kein Drama. Er scheitert am Stoff dieses Lebens. „PHILIPP LAHM GENIESST SEINE LANGJÄHRIGE BEZIEHUNG IN VOLLEN ZÜGEN!“, brüllt er. „ER WÄSCHT GERNE AB! ER BENUTZT EIN GRANATAPFEL-SPÜLMITTEL UND EINEN SCHWAMM IN DER FORM EINES IGELS!“ Der Autor ruft in Indonesien an um abzusagen. Zu spät, dort wollen sie jetzt sowieso lieber ein Stück über Andrea „No Prilo No Party“-Pirlo schreiben lassen.
Jede Zeit hat die Helden, die sie verdient
Eigentlich sollte das Stück den Untertitel tragen: „Anatomie eines Jahrtausends“. Das dritte Jahrtausend. Hyperindividualisierung. Ich und meine Welt. Das Neo-Biedermeier-Glück im Kleinen. Den Lahm auf der Bühne macht es glücklich, sich eine Mehrfachsteckdose bei Karstadt zu kaufen. Warum auch nicht? Ein Theaterstück hat diese Freiheit der Fiktion. Aber wenn es auch in der Wirklichkeit genauso wäre, wäre das so schlimm? Ein fortschrittlicher Mann, der alles abgelegt hat, was Fans verlangen, die sich nach „echten Typen“ sehnen und Psychologen heute toxische Männlichkeit nennen? Wer sich nach Rebellen sehnt, findet sie immer noch im Kino. Wer sich wegen dem eigenen Schwabbelbauch minderwertig fühlt, nennt Cristiano Ronaldo schwul. Aber wer sich identifizieren will, mag Philipp Lahm, den modernen Mann.
Der Bühnen-Lahm macht sich diese Gedanken gar nicht. Am Ende des Stücks löst er einfach ein Ravensburger Dino-Puzzle, isst Weintrauben und beantwortet im Bett noch eine Mail, bevor er die Augen schließt. Das Licht im Theater geht aus und der Zuschauer versteht: Jede Zeit hat die Helden, die sie verdient.