Nach der Veröffentlichung der ZIS-Statistik ist wieder einmal die Rede von der grassierenden Gewalt im Fußball. Doch es gibt einige Punkte, die unter anderem den Anstieg der Strafverfahren erklären. Ein Blick hinter die nackten Zahlen mit Stimmen der Polizei und der Fans.
Die Anzahl der Verletzten ist gestiegen, bewegt sich aber in Relation zu den Besucherzahlen auf einem niedrigen Niveau. Speziell die Risikospiele im Europapokal und die besondere Konstellation der Zweiten Liga haben den Anstieg der Zahlen beeinträchtigt. Ebenso gründet die erhöhte Anzahl von Strafverfahren unter anderem auf einer konsequenteren Strafverfolgung im Zuge der Pyrotechnik-Debatte. Die genannten Punkte sind keineswegs die einzigen Gründe für den jeweiligen Anstieg und sollen den Sachverhalt nicht verharmlosen. Dennoch sollten sie in der von allen Seiten beschworenen „Versachlichung“ der Diskussion um Sicherheit im Stadion bedacht werden.
1. Mehr Verletzte
In der Zusammenfassung des Berichts ist die Rede davon, dass in den Spielen der ersten beiden Ligen, im DFB-Pokal, den UEFA-Wettbewerben und der Länderspiele 1142 Personen (keine Unfallopfer) verletzt wurden – 296 mehr als in der Vorsaison. Auf Nachfrage erklärt die ZIS, dass die Anzahl der verletzten Personen sich nur auf die 612 Spiele der ersten zwei Ligen beziehe. Fest steht: Diese Zahl (1142) markiert tatsächlich einen Höchststand in den Erhebungen der letzten zwölf Jahre.
0,0051 Prozent Verletzte unter den Stadionbesuchern
Jeder Verletzte ist einer zu viel. Dennoch ist es wichtig, die Zahlen in Relation zu setzen. Nimmt man sich die laut ZIS behandelten 612 Spiele vor, dann kommt man auf eine Zuschauerzahl von circa 18,7 Millionen Besuchern in den deutschen Stadien. Der prozentuale Anteil der Verletzten bei einem Fußballspiel lag somit bei 0,0064 Prozent. Allerdings ist auch diese Statistik nicht ganz eindeutig, da zu den 18,7 Millionen Besuchern nicht die eingesetzten Polizisten gerechnet werden, in der Verletztenstatistik die Polizisten (235) aber doch auftauchen. Der prozentuale Anteil der Verletzten unter allen Stadionbesuchern lag demnach bei 0,0051 Prozent. Auf Vergleiche zu den Zahlen bei Volksfesten soll an dieser Stelle verzichtet werden.
Unklar bleiben zudem die Ursachen der Verletzungen, so führte beispielsweise der Einsatz von Pfefferspray durch Polizeibeamte in Hannover zu 36 verletzten Personen. Christian Bieberstein, Sprecher der Fanorganisation „Unsere Kurve“ sieht dies kritisch: „Leider wird im ZIS-Bericht nicht differenziert aufgeführt, wieviele verletzte Personen es durch den Einsatz von Pfefferspray gab oder durch sonstige überharte Einsätze der Polizei. Auch fehlt ein Vergleich zu anderen Großveranstaltungen, um die Zahlen wirklich in Relation zu setzen und damit auch bewerten zu können.“
Auf Seite 7 des ZIS-Jahresberichtes heißt es: „Die geschätzten Angaben der Polizeibehörden über Personen der Kategorie B (bei Gelegenheit gewaltgeneigt) und der Kategorie C (gewaltsuchend/zur Gewalt entschlossen) in den Anhängerschaften beider Profiligen summieren sich auf 11.373 Personen (Vorjahr 9.685).“*
*alle Fettungen aus dem Bericht übernommen
Zum genauen Verfahren der Einschätzung erklärt die ZIS auf Nachfrage:
„In den Spielstandorten sind überwiegend hauptamtlich sogenannte „Szenenkundige Beamte“ eingesetzt, die Kontakt zur Fanszene halten, regelmäßig die Spielbegegnungen begleiten und überwiegend auch die Strafverfahren der auffällig gewordenen Störer bearbeiten. Durch die langjährige Tätigkeit und Erfahrung verfügen die Beamten über gute Personenkenntnisse, die sie in die Lage versetzt, Personen nach ihrer Gewaltneigung in die polizeitaktischen Kategorien (B= gewaltgeneigt, C= Gewalt suchend) einzuordnen.“
Auf- und abstiegsbedingter Anstieg
Der Anstieg in der Einordnung gewaltbereiter/-suchender Personen beläuft sich auf 17,5 Prozent. Dieser sei „im Wesentlichen auf die bereits vor der Saison absehbare brisante Zusammensetzung der 2. BL mit den Absteigern aus der BL (Eintracht Frankfurt und FC St. Pauli) und den Aufsteigern aus der 3. Liga (FC Hansa Rostock, Eintracht Braunschweig, SG Dynamo Dresden) zurückzuführen, die allein in dieser Liga zu einem Anstieg des dort tätigen Gewaltpotenzials um ca. 1100 Personen geführt hatte.“ Auch für die 3. Liga weist der Jahresbericht einen „auf- und abstiegsbedingten Anstieg“ des Gewaltpotenzials aus.
Die Polizei leitete insgesamt 8143 Strafverfahren ein. In den ersten beiden Ligen steigerte sich die Zahl um 25 Prozent. Den Anstieg erklärt die ZIS unter anderem mit der Zunahme bei den Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Sprengstoff-Gesetz, sprich: Pyrotechnik im Stadion. „Ursächlich hierfür dürfte die zu Beginn des Berichtzeitraums geführte Diskussion um die Legalisierung von Pyrotechnik in Fußballstadien gewesen sein, die seitens der Fußballverbände (DFB und DFL) in einer Presseerklärung vom 02. November 2011 mit einer Absage der Legalisierung beendet worden war.“ (wobei hier anzumerken ist, dass alle Beteiligten der Gespräche betonen, dass es nicht um eine Legalisierung, sondern um Pilotprojekte ging)
Strafverfolgung wird intensiviert
In der Folge habe der Vorsitzende des Nationalen Ausschusses Sport und Sicherheit um ein konsequentes Vorgehen gegen Pyrotechnik „gebeten“. „Dieser Hinweis dürfte zu einer weiteren Intensivierung der Strafverfolgungsmaßnahmen mit der Folge eines außerordentlichen Anstieges der eingeleiteten Ermittlungsverfahren geführt haben.“ Die ZIS erklärt, dass „Strafverfolgungsmaßnahmen, die der Identifizierung dienen (der Abbrand erfolgt häufig hinter Bannern, es findet ein Kleidungswechsel statt) umfassend betrieben“ worden seien.
Pro Bundesligaspiel wurden im Schnitt 9,5 Strafverfahren eingeleitet. Der Anstieg der Strafverfahren kann hier im Zusammenhang mit der intensivierten Strafverfolgung im Zuge der Pyro-Diskussion gesehen werden.
Christian Bieberstein von „Unsere Kurve“ sagt: „Entscheidend wären doch die Zahlen, welche dieser Strafverfahren wirklich zu einem rechtskräftigen Urteil führten. Die Anzahl der eingeleiteten Strafverfahren ist leider nicht wirklich aussagekräftig.“ Und weiter kritisiert er die intensivierte Strafverfolgung: „Wenn man die Zahlen mit dem Vorjahr vergleicht, dann muss man fast vermuten, dass die Polizei sehr schnell ein Strafverfahren einleitet. Interessant wäre aber ein Vergleich der Zahlen vor und nach der Diskussion mit DFL/DFB und der Pyro-Initiative, nachdem der Verband die Gespräche abgebrochen hat.“
Die Arbeitsstunden der Polizei stiegen um 21,6 Prozent bei den Polizeibehörden der Länder, um 18 Prozent bei der Bundespolizei. Die Anzahl der freiheitsentziehenden Maßnahmen stieg von 6061 auf 7298.
Bei beiden Statistiken fällt allerdings auf, dass sich die Zahlen in den ersten Ligen anders darstellen. Bei Bundesliga und Zweiter Liga sind die freiheitsentziehenden Maßnahmen fast gleichgeblieben (+1 %), die Arbeitsstunden der Polizei in der ersten Liga gar gesunken (-12 %). Eine wirkliche Steigerung ist allerdings bei den internationalen bzw. sonstigen Wettbewerben zu erkennen:
Allein bei den UEFA-Wettbewerben stieg die Anzahl der Strafverfahren um 184 Prozent, bei den freiheitsentziehenden Maßnahmen um 334 Prozent und bei den Arbeitsstunden der Polizei um 70 Prozent. (auch unter der Rubrik „Sonstige Wettbewerbe“ sind die Zahlen steigend)
Die ZIS erklärt dies gegenüber 11FREUNDE so: „Gerade bei Betrachtung der Saison 2011/2012 ist zu berücksichtigen, dass die Spielbegegnungen von Hannover 96 gegen Brügge und Lüttich auf Grund des feindschaftlichen Verhältnisses der jeweiligen Fangruppen eine starke Absicherung der Spielbegegnungen erforderlich machte. Bei diesen Spielbegegnungen mussten freiheitsentziehende Maßnahmen getätigt werden. Bei gleicher –geringer- Anzahl der Spielbegegnungen wirken sich die geschilderten Rahmenbedingungen stark aus.“
Demnach spielten auch internationale Partien in die Statistik, die Brisanz bargen. Das Weiterkommen deutscher Mannschaften und die folgenden Risikospiele sowie die Zuschauer der internationalen Gegner hatten dementsprechend ebenso Auswirkungen auf die Zahlen der ZIS.
Zu guter Letzt aber noch eine Zahl, die fast vergessen wurde und bei allen Betrachtungen keine unwesentliche Rolle spielt: Es gab auch mehr Zuschauer in den ersten beiden Ligen – und zwar circa 1,3 Millionen mehr als im Vorjahr.