Für die Fußballer der DDR schien nach dem Mauerfall alles möglich. Doch längst nicht jeder Spieler war der neuen Zeit gewachsen. Wie die Stars von einst die bewegten Wende-Jahre erlebten.
Kaffeeduft in der Luft. Kuchen mit Sahne. Eine gedeckte Tafel. Die Kinder haben ein Geschenk vorbereitet. Muttern wurschtelt in der Küche. Ein paar Flaschen Bier hat Hans-Uwe Pilz auch kalt gestellt. Die Gäste können kommen. Es gibt etwas zu feiern. Der Mittelfeldregisseur der SG Dynamo Dresden hat zu seinem einunddreißigsten Geburtstag geladen.
Doch die Klingel bleibt an diesem Abend stumm. Ist das olle Ding kaputt? Nee, es kommt nur keiner. Denn alle Freunde sind weggefahren. Haben sich in ihre Trabis, ihre Wartburgs und Ladas gesetzt, um sich an der Grenze nach Westen in die endlosen Blechlawinen einzureihen, die vor den Übergängen im Stau stehen. Es ist Freitag und seit gestern Abend steht fest: Die Grenze ist auf, die Menschen tanzen in Berlin auf der Mauer.
Wie im Rausch
Pilz muss seinen Geburtstag im Dresdener Plattenbau an diesem Tag allein mit der Familie feiern. In diesem historischen Augenblick zählen Jahrestage und ein privates Anliegen wenig. Es ist der 10. November 1989, der Moment des kollektiven Glücks. West-Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündet vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin gerade, dass weitere Grenzübergänge in der Mauerstadt geöffnet werden.
Deutschland feiert den Beginn der Einheit wie im Rausch. Das Glänzen in den Augen der Menschen – im Osten wie im Westen eines Landes, das 40 Jahre lang geteilt war. Der Beginn auch der Vereinigung zweier Fußballsysteme. Bis vorgestern bestand für Hans-Uwe Pilz kein Zweifel daran, dass er in drei, vier Jahren bei Dynamo die Fußballschuhe an den Nagel hängen würde, um irgendwo als Trainer zu arbeiten.
Doch noch einmal Bundesliga
So ist es im Arbeiter- und Bauernstaat vorgesehen für verdiente Top-Kicker wie ihn. Viele Fragen bleiben da nicht offen. Pilz greift zum Flaschenöffner. Vorsichtig drückt er den Kronkorken der Bierflasche nach oben. Der Jubilar schenkt seiner Frau und sich das goldgelb sprudelnde Getränk in zwei Gläser und sagt: „… vielleicht spiele ich nun doch noch einmal Bundesliga.“
5. April 1989, Dresden
Es ist der vorläufige Höhepunkt in einer Entwicklung, die sich seit einem halben Jahr in der DDR vollzieht. Schon im Frühjahr scheint ein Umdenken in den Führungsetagen des Deutschen Fußball Verbands (DFV) stattzufinden: Im Vorfeld des UEFA-Pokal-Halbfinals gegen den VfB Stuttgart wird den Akteuren von Dynamo Dresden in Aussicht gestellt, mit ihren Ehefrauen zum Auswärtsspiel ins Schwabenland reisen zu können.
Ein Goodie für den großen Erfolg im Europacup. Visa für die Eheleute werden beantragt, doch kurz vor der Abreise erklärt der für den Klub zuständige Parteisekretär beim freitäglichen Politikunterricht, dass die Spielerfrauen doch daheim bleiben müssten. Doch kein Spieler kommt deshalb auf die Idee aufzumucken. Zu warm der Kokon, in dem sich die privilegierten Kicker in dem Staat befinden, der sportliche Erfolge stets auch als Propagandainstrument einsetzt.
Fußballer haben schon in der Jugend die Möglichkeit, zu Spielen und Trainingslagern ins westliche Ausland zu reisen. Nur die wenigsten nutzen dies zur Flucht. Die Bedingungen für Oberligaspieler – die offiziell als Amateure gelten – sind optimal. Selbst wenn ein Akteur insgeheim von einer dauerhaften Ausreise träumt, die Furcht vor Repressalien gegenüber den Angehörigen überwiegt bei den meisten.
23. Juni 1989, Revfülöp, Ungarn
Der Keeper des BFC Dynamo Berlin, Bodo Rudwaleit, verbringt seinen Sommerurlaub mit Frau und Sohn auf einem Zeltplatz am Balaton. Während des zweiwöchigen Aufenthalts fallen ihm immer wieder seltsame Dinge auf. „Leute, die gestern noch da waren, waren plötzlich weg. Auf dem Zeltplatz gab es immer wieder Ansammlungen von Menschen.“ Die DDR ist in Bewegung. Seit Mai baut Ungarn die Grenzanlagen zu Österreich ab.
Kurz darauf unterstreichen der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn ihre Politik der Verständigung und Reisefreiheit medienwirksam mit der symbolischen Durchtrennung des Stacheldrahtzauns.
4. September 1989, Leipzig/Berlin
In Leipzig schließt sich an die Friedensgebete in der Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration an. Gegenüber dem Gotteshaus liegt der Schuhladen, in dem die Frau von Lok-Leipzig-Spieler Heiko Scholz arbeitet. Zunächst noch ungläubig, nimmt das Ehepaar das Treiben auf der Straße wahr.
Als die Veranstaltungen dort immer mehr Zulauf erhalten, muss der Schuhladen montags bald via behördlicher Anweisung bereits um 15 Uhr schließen. Die Spieler von Lok werden in den Sitzungssaal am Trainingszentrum beordert. Die Mitteilung an die Kicker lautet: „Eine Beteiligung an einer Demonstration ist nicht förderlich.“
Auch in Berlin schreitet die Revolution mit Siebenmeilenstiefeln voran. Bei den Partien des BFC Dynamo, dessen Vorsitzender Stasi-Boss Erich Mielke ist, fällt Bodo Rudwaleit auf, wie die Tribünen ihr Gesicht verändern: „Plötzlich waren die Leute von der Staatssicherheit, mit denen wir beim BFC täglich zu tun hatten, nicht mehr so präsent. Hatten wohl Wichtigeres zu tun.“
4. Oktober 1989, Dresden
Im Zusammenhang mit der Ausreise von DDR-Flüchtlingen über die Prager Botschaft werden vier Züge durch den Dresdner Hauptbahnhof geleitet. Am Bahnhof versammeln sich 5000 Menschen, die teilweise versuchen, gewaltsam in die Wagons zu gelangen. Als die Polizei einschreitet und den Bahnhof räumt, kommt es zu Krawallen, bei denen Bürger die Polizei mit Pflastersteinen bewerfen und Teile des Bahnhofs demoliert werden.
Ein Polizeifahrzeug wird angezündet. Viele hundert Personen werden festgenommen und erst tags darauf wieder auf freien Fuß gesetzt. Als es am Hauptbahnhof brennt, ist auch Dynamo-Spieler Ralf Hauptmann dabei. Als Mitglied des Polizeisportvereins versteht es sich von selbst, dass er sich nicht am Aufruhr beteiligt. Aber ein bisschen gucken muss doch gestattet sein. Als Hauptmann aus einiger Entfernung den Ereignissen zusieht, fragt ein Passant den populären Kicker, der im Zweitberuf Polizeileutnant ist, ob er sich im verdeckten Einsatz befinde. Hauptmann: „Ich kannte die Antwort nicht. Ich war Polizist – aber war ich im Dienst?“
5. Oktober 1989, Dresden/Berlin
Die Parteileitung bleibt eine Antwort nicht lange schuldig. Freitags treten die Spieler von Dynamo wie gewohnt zur Agitation im Versammlungsraum an. Der Platzwart fragt den Parteisekretär, was von der Situation zu halten sei. Der Funktionär druckst herum. Doch die Spieler bekommen einen Alarmplan ausgehändigt, falls es in den nächsten Tagen weiterhin zu Ausschreitungen kommen sollte.
Minutiös ist dort aufgelistet, welcher Spieler welchen Kollegen anzurufen hat, sollte der Fall eintreten, dass Dynamo-Spieler die Staatsmacht beim Kampf gegen die Aufrührer unterstützen müssten. Es ist das erste und einzige Mal, dass Männern wie Torsten Gütschow, Ralf Minge, Hans-Uwe Pilz, Ulf Kirsten und Matthias Sammer bewusst wird, dass sie im Zivilberuf Polizisten sind.
18. Oktober 1989, Karl-Marx-Stadt
Vor drei Tagen hat Egon Krenz Erich Honecker als Staatsratsvorsitzenden ersetzt. Nach dem Vorbild anderer Städte treffen sich nun auch in der St. Jakobikirche in Karl-Marx-Stadt die Menschen zu Friedensgebeten und Diskussionen. Rico Steinmann ist an diesem Abend auch unter den Besuchern. Freiheitliche Empfindungen wollen bei dem Star des FC Karl-Marx-Stadt nicht aufkommen.
Noch immer besteht die Angst, dass Demonstrationen von der Volkspolizei gewaltsam aufgelöst werden. Wie viele Stasi-Leute haben sich wohl unter die Besucher gemischt? Der Nationalspieler ist da, aber auch nicht. Zu groß ist die Angst vor Sanktionen. „Ich habe darauf geachtet, an einer Position zu stehen, von wo aus mich nicht jeder sehen konnte.“