Für die Fußballer der DDR schien nach dem Mauerfall alles möglich. Doch längst nicht jeder Spieler war der neuen Zeit gewachsen. Wie die Stars von einst die bewegten Wende-Jahre erlebten.
21. Oktober 1989, Rostock
Mit 3:1 schickt Hansa den BFC Dynamo nach Hause, doch auch an der Ostsee ist Fußball längst zur Nebensache geworden. Seit sich vor zwei Tagen erstmals Demonstranten aus der Petrikirche auf die Straße wagten, ist auch Rostock freiheitsbewegt. Hansas Rainer Jarohs hat sich nach Spielende in seinen Wartburg gesetzt und ist in die Innenstadt gefahren, für heute ist eine Demo geplant. Zu Fuß erreicht Jarohs die Lange Straße, dort trifft gerade der Zug aus der Petrikirche ein. Die Demonstranten erkennen ihn, sie rufen: „Rainer! Komm her, schließ dich uns an!“ Jarohs bleibt stehen, bis auch der Letzte vorbeigezogen ist. Bis heute macht er sich Vorwürfe: „Als normal denkender Mensch hätte ich mitgehen müssen.“
Ende Oktober 1989, Berlin
Auf einem Tisch liegen dutzende Papierstapel. Ein Büro in der Zentrale des DFV. Die Funktionäre um Verbandschef Wolfgang Spitzner stellen die Weichen für eine bessere Zukunft. Alle Oberliga- und DDR-Liga-Spieler müssen per Beschluss einen Lizenzvertrag unterschreiben, der den Statuten der FIFA entspricht.
Nachdem im Juni und Juli in kürzester Zeit der Rostocker Axel Kruse und die Spieler Jens König, Thomas Weiß und André Köhler von Wismut Aue Partien in Schweden zur Flucht in den Westen genutzt haben, will sich der Verband gegen einen weiteren Exodus guter Kicker absichern und gleichzeitig auch Vorkehrungen für zukünftige Transfers von DDR-Spielern in den Nicht-Sozialistischen-Wirtschaftsraum treffen.
Denn auch den Funktionären ist klar: Stars wie Andreas Thom oder Matthias Sammer werden mittelfristig nicht zu halten sein. Es könnte also ein wichtiges Signal für die Öffnung zum Westen und für allgemeine Reisefreiheit sein, wenn DDR-Stars zukünftig auch in anderen Ländern spielen. Die Vorsitzenden der Klubs holen die Verträge beim Verband ab, um sie in einigen Tage unterschrieben zurückzubringen. Durch diese konzertierte Aktion kann plötzlich kein DDR-Spieler mehr ohne Freigabe vom DFV für einen neuen Verein spielen – auch nicht nach der bis dahin üblichen zwölfmonatigen Sperre.
9. November 1989, Leipzig
Für manchen beginnt der alles entscheidende Tag bereits mit einem Highlight: Um 7 Uhr morgens geht Heiko Scholz zur Fahrzeugauslieferung, um dort für 36 500 Ostmark seinen neuen Wartburg abzuholen. Am späten Vormittag muss er mit dem Neuwagen nach Abtnaundorf im Nordosten von Leipzig, wo sich die Nationalmannschaft trifft. In ein paar Tagen spielt das Team in Wien sein alles entscheidendes WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich.
Mit einem Sieg kann sich die DDR für die WM in Italien qualifizieren. Am Abend hockt die Mannschaft in der Sportschule zusammen, der Fernseher läuft. Matthias Sammer: „Stunde um Stunde jagte eine Meldung die andere. Reisefreiheit, Geldumtausch, Löcher in der Mauer. Menschenauflauf am Brandenburger Tor. Und bei uns knallten die Champagner-Korken.“ Nicht jeder Akteur erlebt die Stunden in Abtnaundorf ähnlich gelöst.
Immerhin steht die Elf vor dem wichtigsten Länderspiel seit der WM 1974. Die Magdeburger Dirk Heyne und Dirk Stahmann schlummern bereits, als die Nachricht von der Maueröffnung über die Bildschirme kommt. Für ihr Leben als Fußballer – so glauben sie – hat es keine besondere Bedeutung mehr, denn die Routiniers sind schon deutlich über dreißig und glauben nicht mehr daran, ein Angebot aus dem Westen zu bekommen. Rico Steinmann geht es anders. Er wird im Dezember erst 22. Er sitzt mit dem Team im Gemeinschaftsraum: „Als wir die Bilder von der Grenzöffnung sahen, hatten wohl alle jungen Spieler denselben Gedanken: Dass nun der Traum Bundesliga in Erfüllung gehen könnte …“
10. November 1989, überall in der DDR
Freitagmorgen bei der morgendlichen Übungseinheit von Hansa Rostock fehlen einige Spieler, die noch in der Nacht nach Berlin gefahren sind. Trainer Werner Voigt gibt seinem Team bis Montag frei. Jungstar Florian Weichert ruft seinen Schwiegervater an und erbettelt dessen Trabant.
Im Rathaus von Mölln holen er und seine Frau Susi am Nachmittag ihr Begrüßungsgeld ab, um in Lübeck ein Kuscheltier für den Sohn zu kaufen. Als sie in Ratzeburg an einer Kreuzung nach dem Weg fragen, schenkt ein Passant ihnen einen Atlas. Das Ehepaar muss genau aufpassen, dass es sich nicht zu weit von der Grenze entfernt, denn im Westen gibt es keinen Sprit für ihr DDR-Fahrzeug.
Ralf Hauptmann, Sven Kmetsch und Rocco Milde sitzen derweil in einem Moskowitsch auf der Autobahn bei Plauen. Nichts geht mehr. Ein unendlicher Stau vor der deutsch-deutschen Grenze. Die drei Spieler von Dynamo Dresden sind auf dem Weg nach Bayreuth. Aus dem Kassettenrekorder dudelt pausenlos das Album „Bunte Republik Deutschland“ von Udo Lindenberg. Hochstimmung.
DDR-Rekordnationalspieler Joachim Streich absolviert eine fünftägige Trainerhospitanz beim PSV Eindhoven. Beim Morgentraining wird der Altinternationale von den Niederländern mit der Neuigkeit begrüßt: Die Mauer ist auf. Streichs Rückflug nach Berlin-Schönefeld geht am nächsten Tag. Doch die Maschine der DDR-Linie „Interflug“ verpasst den Anschluss in Amsterdam wegen Nebels.
Ein Mitarbeiter des „Wissenschaftlichen Zentrums“, der den Jungtrainer auf seiner Reise begleitet, sagt: „Es geht noch ein Flug nach Tegel – lass uns den nehmen.“ Reisen zum Westberliner Flughafen sind DDR-Bürgern bislang verboten. Aber was zählt das jetzt noch? Die beiden nehmen den Flug. Als Streich später am Checkpoint Charlie in die DDR einreisen will, begrüßt ihn bereits ein freundlicher Grenzer mit den Worten: „Ach, Herr Streich, waren Sie auch schon drüben.“
Jörg Neubauer, der Pressesprecher des DFV, sitzt in einer Maschine nach Wien. Er ist unterwegs, um vom Österreichischen Verband 9000 Eintrittskarten für das Spiel am kommenden Mittwoch abzuholen. Sie sollen in den freien Verkauf gehen – schließlich hat jetzt jeder DDR-Bürger theoretisch die Möglichkeit, zum Qualifikationsspiel zu reisen. Doch die Bevölkerung hat derzeit anderes im Kopf. Nur 7367 Gästekarten werden verkauft.
Samstag, 11. November 1989, überall in der DDR
Am Otto-Grotewohl-Ring in der Rostocker Südstadt startet Rainer Jarohs seinen weißen Wartburg. Auf der Rückbank sitzen Sohn Daniel und Tochter Sandy. Jarohs übernimmt das Steuer, neben ihm rutscht aufgeregt seine Frau Angelika auf dem Beifahrersitz hin und her.
„Eine Wiedervereinigung hatte ich längst abgehakt“, sagt Jarohs. Über Feldwege im Zickzackkurs erreicht die Familie die Grenzkontrollen bei Ratzeburg. Dort werden die Neuankömmlinge jubelnd empfangen, wildfremde Menschen werfen Geschenke durch die Autofenster. Auf dem Beifahrersitz wird Angelika Jarohs von ihren Gefühlen überwältigt und fängt an zu weinen.
BFC-Libero Frank Rohde steht derweil an der Steglitzer Schlossstraße in Berlin und traut seinen Augen nicht. Eigentlich wollte er ein ruhiges Wochenende in einem Potsdamer Hotel verleben – aber seine Frau hat darauf beharrt, endlich einen Trip nach Westen machen zu dürfen. Er hat seinen Kindern ein Eis gekauft und beobachtet, wie seine Landsleute vom Kaufrausch erfasst werden. „Die Läden hatten überall diese Grabbelkisten aufgestellt – erschreckend, wie nun alle darüber herfielen.“
15. November 1989, Wien
Auch wenn der DDR-Verband versucht hat, die aktuellen Nachrichten von den Nationalspielern fernzuhalten – es hat nicht gereicht, um die Konzentration vollends aufrechtzuerhalten. Schon vor dem Spiel drücken sich im Quartier in Lindabrunn Spielerberater in der Hotel-Lobby herum und versuchen, mit den Sportlern ins Gespräch zu kommen. Drei Tore von Toni Polster entscheiden die Partie im Praterstadion. Rico Steinmann verschießt einen Elfmeter und fragt sich: „Hätte ich den reingemacht, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?“
Die Männer von Eduard Geyer schleichen traurig vom Platz. Während des Spiels haben sich nicht nur auf dem Rasen außergewöhnliche Dinge ereignet: Auf der VIP-Tribüne halten bereits Vertreter von Borussia Dortmund, Bayern München und Werder Bremen Ausschau nach interessanten Spielern.
Leverkusen-Manager Reiner Calmund, der in Köln dem Spiel BRD gegen Wales beiwohnt, hat seine Scouts Dieter Herzog und Manfred Ziegler geschickt – und noch einen Mann, von dem „Calli“ sagt: „Wenn der vorne aus der Disco rausfliegt, klettert er durchs Kellerfenster wieder rein.“ Wolfgang Karnath hat sich Zutritt zum Innenraum des Praterstadions verschafft.
Sein Auftrag: „Bring mir die Kontaktdaten zu Ulf Kirsten, Matthias Sammer und Andreas Thom.“ Calmund behauptet, er habe den Scout mit einem Fotografenleibchen dort eingeschleust, Karnath selbst sagt, er sei mittels seines Sanitäterpasses aus Bundeswehrzeiten an den Ordnern vorbeigekommen.
Als Matthias Sammer in der 79. Minute für Uwe Weidemann ausgewechselt wird, sitzt neben ihm auf der Bank plötzlich ein stämmiger Mann mit buschigem Haar, den er noch nie gesehen hat. Der sagt: „Schönen Gruß von Herrn Calmund, wir wollen Sie nach Leverkusen holen. Lassen Sie uns nach dem Spiel im Hotel Lindabrunn reden.“ Als der Schlusspfiff ertönt, verlässt Andreas Thom mit hängendem Kopf das Spielfeld, als ihm plötzlich derselbe Mann – „einer, der wie ein Fotograf aussah“ – auf die Schulter tippt. Man vertagt sich auf später an der Hotelbar.
Unter die Enttäuschung der verpassten WM-Chance mischt sich schon bald die Hoffnung auf eine neue, ganz andere Zukunft. In Lindabrunn bekommt Karnath, was er will. Die exakte Adresse von Andreas Thom in Berlin unweit der Jannowitzbrücke: Holzmarktstraße, Block, Wohnung. An den Klingeln der dortigen Plattenbauten stehen keine Namen. Calmund braucht also exakte Angaben. Auch mit Kirsten und Sammer beraumt Karnath ein Verhandlungsgespräch an.
In der Lobby des Sporthotels ist jetzt ohnehin viel los. Rico Steinmann erhält eine Nachricht von Werder-Manager Willi Lemke, ob man sich auf ein Gespräch zusammensetzen könne. Auch Rainer Ernst steht im Fokus der mehr oder weniger seriösen Leute, die sich im Mannschaftsquartier einfinden. Ernst: „Abends im Bett überlegte ich, wo mein Weg jetzt hinführt.“
16. November 1989, Berlin/Karl-Marx-Stadt
Mancher muss nicht lange überlegen. Auf einem der billigen Plätze der „Interflug“-Maschine, die am Mittag mit der DDR-Mannschaft zurück nach Berlin fliegt, sitzt Wolfgang Karnath. In einer „Lufthansa“-Maschine aus Köln hat Reiner Calmund Platz genommen, der, getreu seines Mottos „Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen“, keine Zeit zu verlieren hat.
Im KaDeWe kauft er eine Schachtel Pralinen und einen Blumenstrauß für Tina Thom, ein paar Spielsachen für die Tochter des Paars. Andreas Thom sagt: „Später wurde immer von einer Eisenbahn geschrieben. Die suchen Calmund und ich bis heute.“
Beim Treffen wirkt der soeben aus Wien zurückgekehrte Spieler auf den gemütlichen Rheinländer nervös. Calmund: „Kein Wunder. Mir war sofort klar, dass in dieser Wohnung die Wände riesige Ohren hatten.“ Der Bayer-Manager fasst sein Anliegen in sachliche Worte, um unsichtbare
Mithörer nicht auf dumme Gedanken zu bringen: „Andreas, das ist eine offizielle Sache. Ich möchte nur wissen, ob du dir vorstellen kannst, für Bayer Leverkusen zu spielen. Wenn ja, bin ich morgen früh beim Verband und lasse die Drähte glühen.“
Als Calmund gegangen ist, ruft Thom beim Kollegen Frank Rohde durch. „Wuschi, der Calmund will mich haben, kann ich vorbeikommen?“ Der stämmige Abwehrboss ist für viele in der Mannschaft des BFC ein väterlicher Freund. Die halbe Nacht wälzen sie Gedanken, wie nun vorzugehen sei.
Als Rico Steinmann in Karl-Marx-Stadt seine Wohnung aufschließt, kommt seine Lebensgefährtin auf ihn zugestürmt. Das Telefon klingelt in einer Tour. Spielerberater wollen sich mit ihm treffen. „Fast ein halbes Dutzend – und fast jeder wollte sofort einen Beratervertrag unterschrieben haben.“ Einer gibt sich sogar als offizieller Vertreter des 1. FC Köln aus. „Er legte mir einen Vertrag mit konkreten Zahlen vor“, erinnert sich Steinmann.
Später stellt sich heraus, dass der Mann überhaupt kein Mandat vom FC besitzt. Als Steinmann handschriftliche Korrekturen an dem vermeintlichen Kontrakt vornimmt, wertet der angebliche Berater dies als Vereinbarung und droht mit einem Anwalt, sollte Steinmann sich nicht an die vorgelegte Vereinbarung halten oder einen anderen Berater zu Rate ziehen. Steinmann: „So wie die Zahlen war auch diese Drohung völlig aus der Luft gegriffen.“
17. November 1989, Berlin
Reiner Calmund hat einen vollen Terminkalender. Er muss beim Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) ein förmliches Anschreiben wegen des Thom-Transfers einreichen, auch, um den Spieler zu beruhigen, dass alles den behördlichen Weg geht. Am Abend trifft er im Grand Hotel Ulf Kirsten und Matthias Sammer, die aus Dresden anreisen. Vorbehaltlich einer Freigabe durch den DDR-Verband bekommt er am Ende des Treffens von beiden eine Unterschrift unter einen Vorvertrag.
Ende November 1989, Berlin
Bodo Rudwaleit macht mit der Familie einen Westausflug. Ziel: die Neuköllner Karl-Marx-Straße. Im Rathaus holen sie sich ihr Begrüßungsgeld ab. „Wir wussten ganz genau, was wir kaufen: Ein Paar Tennisschuhe für meinen Sohn.“ Der Keeper hat ein bisschen Westgeld, das er schwarz getauscht hat. In der Kurfürstenstraße entdeckt er ein Schild: „Autos zu verkaufen“. Kurz überlegt er, ob er sich einen 3,2 Liter Ford Granada zulegen soll, dann kauft er den acht Jahre alten Mercedes 280 in braun-metallic für 6500 DM. Seinen Lada Niva, den er erst ein Jahr vorher mit Hilfe des BFC gekauft hat, gibt er in Zahlung. Für das 36 500 Ostmark teure Modell bekommt er noch 2000 Westmark.
Ende November 1989, Berlin
Günter Netzer schwärmt: „Das sind ja traumhafte Zustände bei Ihnen.“ Als Vertreter des Schweizer Sportvermarkters CWL ist Netzer zum DFV gekommen, um mit dem Verband über die TV-Rechte und Bandenwerbung in der Oberliga zu verhandeln. Es ist für die Klubchefs die erste Begegnung mit der Marktwirtschaft. Und wie in der DDR üblich, haben sich alle Vorsitzenden der Vereine pünktlich zum Termin an einem Tisch versammelt, um Netzers Vortrag zu lauschen. In anderen Ländern muss er mühsam jeden Klub-Präsidenten einzeln aufsuchen. Die Ideen der CWL sind interessant – doch zu diesem Zeitpunkt kann sich der Verband nicht zu einem Vertragsabschluss durchringen. Erst im März 1990 gelingt es der CWL, mit Energie Cottbus den ersten privaten Vertrag über Marketingrechte abzuschließen.