Barzagli, Bonucci, Chiellini – zusammen 95 Jahre alt und abgezockt für Vier. Im Achtelfinale sollen sie Spanien stürzen, für Zuversicht sorgt dabei vor allem eines: ihre Aura.
Doch ich merkte schnell, dass der verjährte Schmerz und die underdogige Rolle der Italiener nicht die einzigen Gründe für die plötzliche Zuneigung waren und landete bei der nächsten Erinnerung: Amateurfußball, Abschlussspiel im Training, alt gegen jung. Jung war immer fitter, hungriger, technisch besser und überhaupt in allen messbaren Fertigkeiten überlegen. Und alt war, nun ja, in erster Linie älter. Aber, und jetzt kommt die entscheidende Vokabel: Alt war einfach abgewichster. Genauso abgewichst wie die alten Recken mit faulen Tricks und unnötiger Härte die Trainingsspiele gewannen, zermürbten die Italiener das hochveranlagte belgische Team. Und so widerlich es sein mag, gegen diese Haudegen anzutreten, so berauschend muss es sein, mit ihnen auf dem Platz zu stehen.
Bei Guardiola heißt es Avangarde, bei den Italienern Oldschool
Bonucci, Barzagli und Chiellini – das raubeinige BBC-Pendant zu Reals Wundersturm – sie sind mit Verlaub nicht mehr die Schnellsten. Sie sind keine Kleiderschränke wie Boateng und setzen nicht mehr zu wilden Sturmläufen an wie einst Lucio. Zusammengerechnet sind sie 95 Jahre alt und spielen seit 22,5 Jahren für Juventus Turin. Als Guardiola bei den Bayern nur drei Verteidiger aufstellte, machte das Wort Avantgarde die Runde. Wenn die angerostete BBC-Version für Italien die Dreierkette bildet, fällt das Wort Oldschool. Und doch verteidigt das Trio seit Jahren auf konstant hohem Niveau. Das liegt zu einem großen Teil an der enormen fußballerischen und taktischen Qualität. Dazu kommen defensivstarke Teamkollegen. Immerhin hält ihnen ein gewisser Gigi Buffon – schlappe 38 – den Rücken frei. Doch neben den sportlichen Erklärungen sind es gefühlige Kleinigkeiten, die bei Zuschauern und Gegnern den Eindruck erwecken, die Drei seien unüberwindbar.
Man kann diese Abgewichstheit nicht statistisch errechnen. Eher sind es Randgeschichten, die vor allem aus Chiellini eine Art abgewichsten Prototypen machen. Da wäre die Sache mit der Nase. Vier mal gebrochen, krumm und schief und groß und mitten im Gesicht. Da wäre die Sache mit Suarez. Den fußballerisch überlegenen Stürmer nervte er 2014 bei der WM so sehr, dass der ihn vor einem Millionenpublikum in die Schulter biss. Und da wäre die Sache mit dem Studium. Den Bachelor in Wirtschaft hat er längst, Master und Doktor sollen folgen. Jetzt ist dieser knochenharte Typ also auch noch schlau – unberechenbarer geht‚s kaum. Flankiert vom unverwüstlichen Barzagli, seit gefühlt einem Jahrzehnt abgeschrieben, und Leonardo Bonucci, abgezockt und sagenhaft elegant zugleich, bildet Chiellini die gefürchtetste Defensive der Europameisterschaft.
Voller Ehrfurcht beobachtete ich die Drei gegen Belgien, sah die Italiener siegen und freute mich ob der Cleverness der alten Recken. Ich sah sie ein weiteres Mal siegen gegen Schweden, als sich, vielleicht auch wegen der geringen Gegenwehr, schon ein gutes Stück Behäbigkeit in die Aktionen mischte. Schon qualifiziert, sprengte Trainer Conte gegen Irland sein Prunkstück und gönnte Chiellinis müden Knochen eine Pause. Für mich Grund genug das Spiel zu verpassen, für die Irländer Grund genug, das Spiel zu gewinnen.
Können sie Morata stoppen?
Und nun warten im Achtelfinale die Spanier. Im Sturm angeführt vom jungen Alvaro Morata, der der Welt beweisen will, dass er ein Stürmer von Format ist. Und womöglich werden die Spanier, vor vier Jahren im EM-Finale fegten sie die Italiener mit 4:0 von der Platte, wieder eine Nummer zu groß sein.
Doch wenn es einen Grund gibt, auf die Italiener zu setzen, dann vielleicht diesen: Alvaro Morata spielte die letzten Jahre bei Juventus Turin. Und bei alt gegen jung – reine Spekulation – dürften seine Wege die von Chiellini, Barzagli und Bonucci im Training öfters gekreuzt haben. Und vielleicht wird er gemerkt haben, dass er technisch stärker ist, schneller und auch kräftiger. Doch dann ist Giorgio Chiellini ihm womöglich auf den Fuß getreten, hat den Ball abgefangen und nach vorne geprügelt. Danach schmerzte Moratas großer Zeh. Und alt gewann das Spiel.