Heute wird David Odonkor 40 Jahre alt. Der Sprint gegen Polen war die Initialzündung für das Sommermärchen 2006. Hier erzählt er gemeinsam mit Torschütze Oliver Neuville, wie sich so was anfühlt.
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David Odonkor und Oliver Neuville, wir sitzen auf der Tribüne des Dortmunder Westfalenstadions. Wie gefällt Ihnen die Aussicht?
David Odonkor: Wunderbar. Da hinten (zeigt auf die Außenlinie, d. Red.) bin ich in Richtung Trainerbank gerannt und habe den Diver gemacht. Dann merke ich, wie mir Asa (Gerald Asamoah, d. Red.) fast auf die Hand springt. Bevor er sie mir bricht, ziehe ich sie gerade so weg. Und dann begraben mich die anderen.
Oliver Neuville: Der Moment war unglaublich. Nach dem Tor springt Ballack mit seinen fast hundert Kilo auf mich schmalen Kerl – aber ich habe das gar nicht gemerkt.
Odonkor: Du hast in so einem Moment eine unglaubliche Power. Da bist du in einer anderen Welt.
Können Sie diese Welt beschreiben?
Odonkor: Der Sieg gegen Polen war nicht nur für uns das Highlight der WM, sondern für das ganze Land. Wenn ich zurückdenke, habe ich immer noch die Abläufe im Kopf, die ich jahrelang trainiert hatte: zwei, drei Schritte dem Mitspieler entgegenkommen – und dann zünden.
Gegen Polen haben Sie diesen Ablauf perfektioniert.
Odonkor: Vor dem Spiel habe ich mich kurz mit Bernd Schneider beraten. Ich sagte ihm: „Lupf die Linie lang, wann immer es geht. Mich holt keiner ein!“ Das hat Schnix optimal gemacht. Ich renne also los, treffe den Ball bei der Flanke ideal – und Oli kickt ihn mit der Schuhsohle rein. Und dann brach der Jubel los.
Neuville: Wir hatten die riesige Freude nicht erwartet. Es war erst das zweite Gruppenspiel, und wenn wir einen Punkt geholt hätten, wäre die Welt auch nicht untergegangen. Aber die Atmosphäre im Stadion war von Anfang an gigantisch. Es waren auch 20 000 polnische Fans da. Außerdem war das Spiel gut, auch wenn es lange 0:0 stand. Wir hatten zahlreiche Chancen. Erst Klose an die Latte, dann Ballack.
Odonkor: Beim Tor fühlte es sich an wie eine Explosion. Im Westfalenstadion ist es ja immer etwas lauter als in anderen Stadien. Aber so einen gewaltigen kollektiven Schrei hatte ich auch dort noch nie gehört.
Neuville: Es war auch phänomenal, was in den Tagen danach passierte.
Odonkor: Plötzlich liefen alle im Deutschland-Trikot herum, niemand fand das mehr seltsam. Mit diesem Tor haben wir den Schlüssel ins Turnierschloss gesteckt und aufgemacht.
Neuville: Wir haben quasi das Sommermärchen erfunden.
Viele Fußballfans in Deutschland wissen noch, wo sie das Tor gegen Polen erlebt haben. Gab es in Ihrer Jugend auch solche Momente?
Neuville: 1990, WM in Italien, da war ich 17 Jahre alt. Ich werde das nie vergessen, weil mein Vater kurz vor dem Turnier verstorben ist. Dann kam es zum legendären Achtelfinale zwischen Deutschland und Holland, wo Rijkaard Völler anspuckt. Ich war im Stadion und stand direkt hinter dem Tor, in das Brehme und Klinsmann getroffen haben.
Auch dieses Spiel wird gerne als Initialzündung für das gesehen, was später geschah.
Neuville: Kleiner Unterschied: Wir haben die WM nicht gewonnen. Aber es stimmt: Das Spiel gegen Polen war eine Art Startschuss. Dazu kam das perfekte Wetter, vier Wochen Sonne am Stück. Die Menschen waren fröhlich, und das ganze Turnier über hat alles – bis auf das Spiel gegen Italien – gepasst. Am Ende stehen eine Million Fans am Brandenburger Tor in Berlin und feiern. Ich glaube, so viele Menschen waren nicht mal 2014 da, als Deutschland Weltmeister wurde.
Odonkor: Wir standen auf der Bühne, und ich habe geguckt, geguckt und geguckt. Aber ich konnte kein Ende der Menschenmasse erkennen. Ich dachte nur: „Alter Schwede, was ist hier denn los?“ Wir waren alle ein bisschen vernebelt, wir hatten kaum geschlafen.
Neuville: Ich war gar nicht im Bett. Die Fete nach dem Spiel um Platz drei fand in der Nähe unseres Hotels in Stuttgart statt. Ich bin um acht Uhr am Morgen aus dem Hotel, und da standen immer noch 20, 30 Fans. Die hatten die Nacht dort verbracht. Wahnsinn!
Gab es nach dem Sieg gegen Polen in Dortmund auch eine kleine Feier?
Neuville: Es ging sofort zurück nach Berlin – und dann direkt ins Bett.
Nicht mal ein Bier?
Neuville: Doch, klar. Ein Bier.
Odonkor: Für dich vielleicht – plus Zigarette! Am nächsten Morgen bin ich früh aufgewacht, obwohl wir eigentlich ausschlafen durften. Dieser Regisseur hat mich geweckt. Wie hieß er gleich?
Neuville: Sönke!
Odonkor: Genau, Sönke (Wortmann, d. Red.) mit der Kamera. Der ist schon früh durchs Hotel geschlichen. Dabei ist die Szene aus dem Sommermärchenfilm mit der Zahnbürste entstanden. Ich war im Tiefschlaf, und auf einmal klopft es an der Tür. Aber ich wollte noch pennen und bin einfach liegen geblieben. Eine Stunde später bin ich aufgestanden, habe Zähne geputzt, da klopfte es wieder. Ich habe aufgemacht, und da lief die Kamera von ihm auch schon.
Hat Sönke Wortmann Sie genervt?
Odonkor: Wir haben die Kamera irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Sönke war wie ein Geist.
Neuville: Der gehörte dazu.
Gucken Sie sich die Dokumentation denn manchmal noch an?
Neuville: Wir waren bei der Premiere dabei. Danach habe ich den Film noch einmal gesehen.
Odonkor: Ich habe sieben oder acht DVDs davon zu Hause. Aber die sind alle noch verschweißt.
Neuville: Ich habe öfter den Film von 2002 geguckt.
Es gibt einen Film über die WM in Japan und Südkorea?
Neuville: Einen rein internen. Den hat Sepp Maier mit einem Uralt-Gerät gedreht. Mittlerweile ist der Film verschollen. Aber der war sensationell. Hast du den gesehen?
Odonkor: Nö.
Neuville: Mist. Bei Sepp hast du auch nicht gemerkt, wenn er gefilmt hat. Der war sowieso super. In Japan hatte er immer Schnupftabak in der Tasche. Manchmal ließ er die Einheimischen probieren, die so etwas noch nie gesehen hatten.
Bei der öffentlichen Präsentation der Nominierten für die WM 2006 wurde für jeden Spieler ein Pappaufsteller entworfen. Für Sie gab es keinen, David Odonkor. Was war passiert?
Odonkor: Die Medienabteilung hatte nicht mit meiner Nominierung gerechnet. Ich war ja auch überrascht, denn eigentlich hatte ich längst für die U21-EM geplant.
Auch viele Fans wunderten sich über Ihre Berufung. War sie verdient?
Odonkor: Ich finde: ja. Ich hatte in der Bundesliga 33 von 34 Spielen gemacht und meine beste Saison für Dortmund gespielt.
Sie stießen als 22-Jähriger ohne Länderspiel zur Mannschaft. Wie groß war der Respekt vor Spielern wie Michael Ballack oder Oliver Kahn?
Odonkor: Ich kannte glücklicherweise Christoph Metzelder und Sebastian Kehl. Außerdem gab es noch andere junge Spieler, die mir die Eingewöhnung erleichtert haben, etwa Marcell Jansen oder Lukas Podolski. Und nach zwei, drei Tagen wurde eh alles lockerer. Ich konnte beim Essen auch mal einen Witz machen – und sogar Oliver Kahn hat gelacht.
Kahn war witzig?
Neuville: Absolut. Er hatte immer einen guten Spruch parat.
Odonkor: Ich hätte ihn nie so eingeschätzt. Jeder dachte damals, Oli sei ein schwieriger Typ. Aber mit uns war er sehr locker.
Oliver Neuville, Sie hatten in der Rückrunde der Saison 2005/06 nur drei Tore geschossen. Auch Ihre Nominierung wurde in der Presse kritisch bewertet.
Odonkor: Wirklich? Für mich war Olis Nominierung klar.
Neuville: Überhaupt nicht, David. Vor der WM war ich bei Klinsmann der dritte Stürmer, ich kam immer als Erster von der Bank. Die Rückrunde mit Gladbach war wirklich durchwachsen. Trotzdem bin ich insgesamt noch auf zehn Tore und zehn Vorlagen gekommen.
Odonkor: Ich frage mich heute noch: Wieso bekommt man die Nummer zehn, wenn man als dritter Stürmer zur Nationalmannschaft eingeladen wird? Eine Frechheit, finde ich. (Lacht.)
Neuville: Oliver Bierhoff rief mich vor dem Turnier wegen der Nummer an. 2002 hatte ich die Sieben, die trug mittlerweile aber Schweinsteiger. Also sagte Oli: „Du hast zwei Möglichkeiten: die Zehn oder die Zehn.“
Hat sich niemand anderes getraut?
Neuville: Mir war’s egal. Ob die Zehn oder die 55. Hauptsache, ich war dabei.
Odonkor: Aber eine große Anerkennung.
Neuville: Zu Recht. (Lacht.) Ich habe gegen Argentinien den ersten Elfer verwandelt. In so einer Situation musst du erst mal Verantwortung übernehmen. Du, David, hättest dir in die Hose gemacht.
Odonkor: Ich wollte ja schießen, aber die anderen haben gesagt: lieber nicht. (Beide lachen.) Natürlich hat man weiche Knie. Aber als Keeper den entscheidenden Elfer zu halten, so wie Jens (Lehmann, d. Red.) damals: Puh! In der Haut wollte ich nicht stecken.
Neuville: Beim Elfmeterschießen hat der Torwart doch keinen Druck. Für den Spieler ist es schlimmer. Ich habe viele Elfmeter geschossen, aber der gegen Argentinien war wirklich übel. Ich lief von der Mittellinie nach vorne, und das Tor wurde kleiner und kleiner. Umso besser, dass der Ball drin war. Torsten (Frings, d. Red.) hätte den fünften schießen müssen. Der war froh, dass Jens davor gehalten hatte.
Lassen Sie uns ein paar andere Namen aus der Mannschaft durchgehen. Was fällt Ihnen zu Michael Ballack ein?
Neuville: Leader. Capitano. Für einen Mittelfeldspieler extrem torgefährlich, dazu eine große Persönlichkeit. Ich kenne ihn ewig, noch aus Leverkusener Zeiten. Da war er schon überragend.
Miroslav Klose?
Neuville: Top Einstellung. Ruhiger Typ, aber auf dem Platz eine Tormaschine.
Bernd Schneider?
Neuville: Schnix. Ein guter Freund. Super Ballgefühl. Für mich einer der besten Mittelfeldspieler in Deutschland. Weißer Brasilianer.
Odonkor: Das hat man schon im Training gesehen. Tolle Technik, dazu dieses geniale Auge.
Neuville: Der ist noch ruhiger als ich. Deswegen haben wir uns so gut verstanden und in Leverkusen fünf Jahre ein Zimmer geteilt. Der wollte einfach nur Fußball spielen und ansonsten seine Ruhe haben. Jetzt lebt er wieder in Jena, ganz friedlich, einfach so.
Lukas Podolski?
Neuville: Ist einfach, wie er ist. Deswegen lieben ihn die Leute. Er hat sich bis heute nicht großartig verändert. Was ihm durch den Kopf geht, sagt er. Anders als viele mediengeschulte Jungprofis von heute.
David Odonkor?
Neuville: David war der einzige Spieler, der schneller als der Ball war. Manchmal hat er ihn einfach vergessen. Ihr lacht jetzt, aber das war so. Ich freue mich immer, ihn zu treffen.
Und Oliver Neuville?
Odonkor: Wir sind 2006 Freunde geworden. Ab und zu kicken wir noch zusammen bei Traditionsturnieren. Neulich, bei einem Sponsoren-Cup wurde ich sogar Torschützenkönig.
Neuville: Du? Da war ich nicht dabei!
Odonkor: Da habe ich 13 Tore gemacht!
Neuville: Gegen Leute, die noch nie Fußball gespielt haben.
Odonkor: Es war ein Erfolg.
Neuville: Für dich vielleicht.
Wie schießt man denn eigentlich das perfekte Tor?
Neuville: Im Einfachen liegt oft das Geniale. Nehmen wir Lionel Messi: Er lässt das Toreschießen leicht aussehen. Ähnlich ist das bei Cristiano Ronaldo. Beide schießen so viele Tore, weil sie das Spiel nicht unnötig kompliziert machen. Ich trainiere die U19 von Borussia Mönchengladbach, und meine Jungs versuchen sich ständig an Kunstschüssen, bei denen sie den Ball mit dem Spann so schießen, dass er aufs Tor flattert. Von zehn Versuchen geht vielleicht einer rein. Wenn sie aber gezielt mit der Innenseite schießen, sind es drei oder vier.
Haben Sie ein Lieblingstor?
Neuville: Marco van Basten, EM-Finale 1988 gegen die UdSSR. Da hat alles gepasst. Langer Ball, diagonal, und er jagt ihn direkt volley in den Winkel. Hätte ich das gemacht, würden sie den Ball heute noch suchen.
Odonkor: Ich kann mich an ein Tor von Jay-Jay Okocha erinnern. Als er für Paris gespielt hat. Da hat er den Ball von der Mittellinie in den Winkel gehauen. Anstoß – und bumm. Traumhaft.
Haben Sie selbst schöne Tore geschossen?
Odonkor: So viele habe ich ja nicht gemacht. (Lacht.) Aber eins fällt mir ein: Nationalmannschaft, in Köln gegen Rumänien. Da wollte Poldi den Ball gesteckt bekommen, aber ich laufe weiter und mache ihn selber rein. Das war super. Oder mein erstes Tor für Dortmund, gegen Rostock. Da hatte ich zwei Trikots an.
Wieso?
Odonkor: Weil ich ein gutes Gefühl hatte. Ich wusste, wenn ich reinkomme, mache ich eine Hütte. Dann hat Frings mir den Ball perfekt aufgelegt, ich brauchte nur noch 30 Meter zu laufen, und dann schoss ich das Ding in den Knick – mit der Pike. Danach habe ich das zweite Trikot einem Rollstuhlfahrer geschenkt, dem ich es vorher versprochen hatte.
Neuville: Und von da an hattest du jedes Spiel zwei Trikots an?
Odonkor: Nein.
Neuville: Hättest du mal machen sollen.
Odonkor: Nein, Oli. Das war ein besonderer Moment. Das kann man nicht immer haben.
Wie ist es bei Ihnen, Oliver Neuville: Welcher war der schönste Treffer Ihrer Profikarriere?
Neuville: Ich habe das Tor des Jahres 2006 geschossen.
Odonkor: (Applaudiert.)
Neuville: Es war kurz nach der WM 2006. Die anderen waren lange im Training, und ich kam erst an einem Dienstag an, am Mittwoch war schon ein Testspiel gegen Galatasaray. Normalerweise hätte ich das ausgelassen, aber es war die Saisoneröffnung. Also hat mich Jupp Heynckes (2006 Trainer von Borussia Mönchengladbach, d. Red.) gefragt: „Willst du trotzdem kurz spielen? Zehn Minuten, Viertelstunde?“ Und ich sagte: „Ja, warum nicht?“ Zwei Minuten nach meiner Einwechslung traf ich per Hacke.
Odonkor: Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Aber ich war mittlerweile schon in Spanien, und dort hatte ich keinen Fernseher.
Neuville: Ein anderes wichtiges und schönes Tor: Halbfinale Champions League, Leverkusen gegen Manchester United. Gegen Fabien Barthez. Da bekomme ich an der Strafraumgrenze einen Pass. Ich drehe mich blitzschnell, schieße, und der Ball geht unter die Latte. Es war das Tor, das uns ins Finale brachte.
Welche Stürmer haben Sie früher begeistert?
Odonkor: Meine Helden waren Okocha und Ronaldo, also der alte.
Neuville: Marco van Basten. Er war der kompletteste Stürmer. Ich konnte nur mit rechts schießen, er konnte alles.
Odonkor: Ich hatte zwar Ronaldos Schnelligkeit, allerdings habe ich ein paar Tore weniger geschossen. (Lacht.) Vielleicht weil mir die Technik von Okocha fehlte. Letztes Jahr habe ich ihn übrigens getroffen.
Jay-Jay Okocha?
Odonkor: Genau. Bei einem Benefiz-Event haben wir gegeneinander gespielt. Was für ein geiler Zocker. Immer noch. Wir haben später ein gemeinsames Foto gemacht. Ich hätte nie gedacht, dass ich so einen mal treffe.
Sie waren bei der WM 2006 und der Europameisterschaft 2008 dabei und sind dort Legenden wie Francesco Totti, Henrik Larsson oder Carlos Tevez begegnet. Man sollte meinen, dass Sie an Weltstars gewöhnt sind.
Odonkor: Das ist etwas anderes. Okocha war mein Vorbild von klein auf – und auf einmal stand er vor mir. Ich habe mich gefreut wie ein Kind.
David Odonkor, Oliver Neuville, das Tor gegen Polen liegt nun mehr als ein Jahrzehnt zurück. Wie oft müssen Sie davon erzählen?
Odonkor: Manchmal. Ich freue mich dann immer, wenn Leute mir sagen: „Danke, das war toll.“ Dann weißt du, dass du etwas richtig gemacht hast in deiner Karriere. Du hast gut gespielt und alles gegeben, und die Leute werden sich auch noch in 20, 30 Jahren an diesen Moment und an uns erinnern. Im Fußballmuseum hängt sogar ein Foto von uns. Es gab so viele Weltmeisterschaften, aber wir sind mit einem Bild dabei. Das macht mich sehr stolz.
Neuville: Ich werde das Tor nie vergessen. So einen Moment wird es für uns nicht noch einmal geben.