Rudelbildungen und rote Karten: Die zweite Halbzeit von Atlético Madrids Gastspiel beim FC Porto erinnerte phasenweise an ein Wrestlingmatch. Die Mannschaft knüpft damit an die erfolgreichste Zeit der Simeone-Ära an – obwohl sie sich doch eigentlich neu erfinden wollte.
Portos Linksverteidiger Wendell versteht die Welt nicht mehr. Gerade hat Schiedsrichter Clement Turpin den Ex-Leverkusener für eine angebliche Tätlichkeit gegen Atléticos Matheus Cunha des Feldes verwiesen. Während der ehemalige Herthaner eine oscarreife Performance hinlegt, gehen sich Spieler, Trainer und Betreuerstäbe beider Mannschaften an die Gurgel. Am Ende zeigt der französische Referee auch noch Portos Ersatzkeeper Marchesin die Rote Karte. Madrids Carrasco hatte der Schiedsrichter bereits drei Minuten zuvor unter die Dusche geschickt, weil der Belgier seinen Gegenspieler Otavio mit einer Schlag-Schwitzkasten-Kombination niedergestreckt hatte.
70 Minuten sind zu diesem Zeitpunkt am Dienstagabend im Estádio do Dragão gespielt. Es ist das letzte Gruppenspiel der diesjährigen Champions-League-Gruppenphase. Nach der sechs minütigen Nachspielzeit gehen die Colchoneros mit 3:1 als Sieger vom Feld. Dabei hatte es danach im Spiel lange Zeit nicht ausgesehen.
Seit Atléticos Ex-Spieler Diego Simeone 2011 das Traineramt bei den Madrilenen übernommen hat, wurde der Klub medial des Öfteren zu einer Art Ramboverein deklariert, „dogs of war“ wird das Team dann gerne genannt – und das nicht ohne Grund. Denn der Auftritt in Porto verstärkt erneut den Eindruck einer Mannschaft, die zwar außergewöhnliche Einzelkönner in ihren Reihen hat, gleichzeitig aber gegen spielstarke Gegner auffallend häufig am Rande des Erlaubten wandelt. Kein Zufall, dass es in dieser Saison bei den Champions-League-Gruppenspielen gegen die prominenten Gegner aus Liverpool, Mailand und Porto im Schnitt mindestens einen Platzverweis gab. Damit scheint sich das aktuelle Team der Colchoneros auf ähnliche Methoden zu besinnen, wie die Meistermannschaft von 2014 – dabei wollte sich der Verein in den letzten Jahren eigentlich spielerisch weiterentwickeln.
Zumindest lassen einige Amtshandlungen aus der jüngeren Vergangenheit auf dieses Vorhaben schließen. Da wäre zum Beispiel die sündhaft teure Verpflichtung des portugiesischen Top-Talents João Félix. 127 Millionen Euro investierte Atlético 2019 in den Stürmer, der bei Benfica Lissabon nicht unbedingt als aggressives Enfant terrible in Erscheinung getreten war, sondern sich eher in die Kategorie Filigrantechniker einordnen lässt. Der Kauf des wendigen und technisch begabten Marcos Llorente im selben Jahr gehört in eine ähnliche Rubrik, obwohl den Spanier durchaus seine starke Arbeit gegen den Ball auszeichnet. Im Gegenzug verließen wiederum die Zweikampfmonster Diego Godín, Juanfran, Rodri, Filipe Luís und Lucas Hernández den Verein. Alle fünf hatten Simeones aggressives Konzept teilweise über Jahre auf dem Platz verkörpert.
„Wenn ich Matsch sehe, werfe ich mich hinein. Arbeit ist alles“, soll Simeone einmal gesagt haben. Konsequent setzte sein Team genau dieses Mantra um. Zu Beginn der letzten Saison folgte aber ein Umschwung. Die Mannschaft des Argentiniers begann bereits in der gegnerischen Hälfte mit dem Pressing. Fans rieben sich verwundert die Augen: Denn eigentlich war Atlético dafür bekannt, die eigene Box rigoros zu verteidigen.
Bei der Suche nach Gründen für die Notwendigkeit des Wandels fällt vor allem der letztjährige Transfer von Barcelonas Stürmer Luis Suárez ins Auge. Denn der Uruguayer ist zwar nach wie vor treffsicher, doch kann der Stürmerstar aufgrund seines hohen Alters beileibe nicht als Konterspieler bezeichnet werden. Bei der Blaugrana wird ohnehin spätestens seit der Ära Guardiola ein dominierender Ballbesitz-Fußball gepredigt. Eine vergleichbare Spielweise versuchte Simeone nun also auch seiner Mannschaft überzustülpen. Mit João Félix und Angel Correa standen im Offensivdrittel zwei agile und kreative Partner an der Seite von Oldtimer Suárez. Auf dem Papier schien Atlético die perfekten Voraussetzungen für einen spielerischen Neustart mitzubringen. Der Erfolg dieser Ausrichtung gab den Madrilenen zunächst recht. Im Dezember 2019 schob sich der Verein erstmals in der Spielzeit an die Tabellenspitze und stand dort auch noch Ende Januar mit satten 10 Punkten Vorsprung.