Pierluigi Collina, einer der besten Schiedsrichter unserer Zeit, wird heute 60 Jahre alt. Vor der WM 2010 führten wir mit ihm dieses Interview. Über Laufwege, VHS-Rekorder und das Finale ’02.
In der Europa League gab es in dieser Saison das Experiment mit zwei sogenannten »Additional Assistant Referees«, die vor allem das Tor und den Torraum beobachten sollten. Hat sich das aus Ihrer Sicht bewährt?
Ich habe mit mehreren Schiedsrichtern gesprochen, die bei dem Experiment mitgemacht haben. Deren Eindruck war, dass man eine bessere Kontrolle über den Strafraum hat, und das ist nun mal der wichtigste Teil des Spielfelds. Vor allem bei Ecken und Freistößen befinden sich manchmal sechs oder sieben Spielerpaare im Strafraum, auf die sich kein Schiedsrichter gleichzeitig konzentrieren kann. Ein weiterer Assistent im Strafraum mit einem anderen Blickwinkel auf das Geschehen hilft also, allerdings muss sich der Schiedsrichter umstellen.
Inwiefern?
Normalerweise ist der Laufweg eines Schiedsrichters diagonal angelegt. Mit den beiden neuen Schiedsrichtern dreht man aber etwa 25 Meter vor dem Tor ab und bildet so ein Dreieck mit dem Linienrichter an der rechten Seite und dem neuen Schiedsrichterassistenten zur Linken im Strafraum (siehe Zeichnung, d. Red.). Es ist aber gar nicht so einfach, einen Laufweg zu ändern, an den man sich über Jahre gewöhnt hat. Deshalb hatten wir für die entscheidenden Spiele in der Europa League nur Schiedsrichter ausgewählt, die damit bereits Erfahrung gemacht haben.
Von Schiedsrichtern wird immer eine klare Linie verlangt. Im WM-Finale von 2002 haben Sie zwei Gelbe Karten gezeigt, eine in der 6. und eine in der 9. Minute …
… und das war´s dann!
Waren diese Verwarnungen Folgen eines Plans, am Anfang direkt hart durchzugreifen?
Nein, so funktioniert das nicht. Man kann nicht willkürlich eine Grenze setzen, ohne zu wissen, was passieren wird. Aber eine der Gelben Karten habe ich gezeigt, weil der Spieler mit ausgefahrenem Ellenbogen in den Zweikampf gegangen war. Das wiederum war eine Charakteristik dieses Spielers (gemeint ist der Brasilianer Roque Junior, d. Red). Wenn man das als Schiedsrichter weiß, kann man sich auf dem Spielfeld so in Position bringen, dass man besser mitbekommt, wenn er seinen Ellenbogen unfair einsetzt.
Im Film »Referees at Work«, einer Dokumentation über die Schiedsrichter bei der letzten Europameisterschaft, gibt es eine Szene, in der der Schiedsrichterassistent auf dem Weg in die Halbzeitpause auf der Stadionleinwand sieht, dass seine Abseitsentscheidung falsch und damit der Treffer regelwidrig war. Wie geht man als Unparteiischer mit einer solchen Situation um?
Manchmal realisiert man in der Halbzeit auch ohne Fernsehbild, dass man einen Fehler gemacht hat, weil jemand darauf aufmerksam macht oder die Spieler entsprechend reagieren. Es ist dann wirklich sehr schwierig, den Fehler auszublenden. Ich würde eine Parallele zu den Fußballspielern ziehen: Wenn ein Stürmer zu Beginn eines Spiels eine klare Tormöglichkeit vergibt und ihr in Gedanken hinterherhängt, ist das Spiel für ihn gelaufen.
Der Schiedsrichter könnte aber, anders als der Stürmer, seinen Fehler durch einen weiteren zugunsten des benachteiligten Teams ausgleichen. Mathematisch gesehen bedeutet Minus mal Minus gleich Plus.
Aber die Arbeit eines Schiedsrichters hat nichts mit Mathematik zu tun, oder wenn überhaupt als Addition: 1 + 1 = zwei Fehler. Als menschliches Wesen versucht man immer, ein Gleichgewicht herzustellen. Wenn man etwas falsch macht, versucht man, das zu kompensieren. Aber der Schiedsrichter hat nur eine einzige Option: Vergessen, was man falsch gemacht hat und nach vorne schauen.
Wird es bei der Weltmeisterschaft während der Halbzeitpause in solchen Situationen ein Feedback für die Schiedsrichter durch ihre Betreuer geben?
Nein, aber wenn ich Trainer oder Ausbilder eines Schiedsrichters bin, warum sollte ich in der Halbzeit nicht etwas sagen dürfen? Es gibt Mannschaften, die eine armselige erste Halbzeit spielen und ihre Leistung im zweiten Durchgang dann herumreißen, weil der Trainer in der Halbzeitpause neue Anweisungen gibt, Veränderungen vornimmt und vielleicht die Spieler neu motiviert. Ich bin inzwischen Mitglied des UEFA-Schiedsrichter-Komitees und schaue mir Spiele an. Wenn ich denke, dass die Leistung des Schiedsrichters besser sein könnte, wenn er etwas verändert, warum sollte ich dann bis zum Ende des Spiels warten, um diese Informationen weiterzugeben? Als Provokation würde ich sagen: Ich sehe nichts Falsches daran. Ich weiß aber nicht, ob so ein Vorschlag bei den Verbänden akzeptiert würde.