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Pier­luigi Col­lina, am 11. Juli um 20.30 Uhr wird einer Ihrer Schieds­rich­ter­kol­legen in Johan­nes­burg das End­spiel der Welt­meis­ter­schaft 2010 anpfeifen. Was können Sie ihm mit auf den Weg ins Finale geben?
Er sollte das Spiel vor allem genießen. Es ist eine Bestä­ti­gung für seine guten Leis­tungen und wird für ihn eine Erin­ne­rung werden, die ein ganzes Leben bleibt, weil das Ereignis so beein­dru­ckend ist.

Sie haben es selbst erlebt, als Sie das WM-Finale 2002 zwi­schen Bra­si­lien und Deutsch­land geleitet haben. Wie sind Sie mit dem immensen Druck umge­gangen, dass die ganze Welt auf Ihre Ent­schei­dungen geschaut hat?
Ich habe immer ver­sucht, jede Partie – und dazu gehört auch das Finale einer Welt­meis­ter­schaft – als ein ganz nor­males Spiel zu betrachten. Das nimmt den Druck. Ich habe sogar mit­tags noch eine Stunde geschlafen.


Wirk­lich?
Ja, denn so bereitet man sich richtig auf das Spiel vor. Als Profi muss man sich auch dann normal ver­halten, wenn man ein paar Stunden später an so einem Groß­ereignis teil­nimmt, sonst wird die eigene Leis­tung dadurch geschmä­lert, dass man Angst bekommt. Ner­vo­sität ist kein Pro­blem, aber sie muss im gesunden Rahmen bleiben. Dar­über hinaus muss sich der Schieds­richter bewusst­ma­chen, dass er der rich­tige Mann für das Spiel ist. Er wurde aus­ge­wählt, weil es Ver­trauen in seine Fähig­keiten gibt.


Die Vor­be­rei­tung der Schieds­richter im Vor­feld von Welt­meis­ter­schaften hat sich zuletzt von Grund auf geän­dert.
Absolut. Für die kom­mende WM ist es so: Seit drei Jahren läuft ein spe­zi­elles Pro­gramm. Am Anfang war eine große Anzahl von Schieds­rich­tern dabei, von denen mit der Zeit immer mehr aus­sor­tiert wurden. Nun steht die end­gül­tige Liste, und die Schieds­richter, die es auf diese Liste geschafft haben, arbeiten seit nun­mehr zwei­ein­halb Jahren mit dem­selben Aus­bilder. Sie werden also wirk­lich sehr gut vor­be­reitet sein.


Das liegt auch daran, dass Sie im Laufe ihrer Kar­riere neue Stan­dards gesetzt haben. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Spiel­vi­deos der Mann­schaften anzu­schauen, die Sie gepfiffen haben?
Man muss sich klar­ma­chen, dass die Rolle des Schieds­rich­ters im Laufe der Zeit eine andere geworden ist. Haben Sie einmal Bilder des Schieds­rich­ters beim ersten WM-Finale 1930 in Uru­guay gesehen? Er war ange­zogen wie ich jetzt: mit Jackett, Hemd und Kra­watte. Er hat sich als Richter ver­standen, der die Ein­hal­tung der Regeln gewähr­leistet. Später wurden die Schieds­richter zu Ath­leten und benutzten die gleiche Aus­rüs­tung wie die Spieler.


Und heute bereiten sich Unpar­tei­ische auf ein Fuß­ball­spiel wie die Trainer vor?
Nein, sie bereiten es aus der Schieds­richter-Per­spek­tive vor.

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Aber nutzen dabei ähn­liche Hilfs­mittel?
Ja, 2002 waren es noch VHS-Kas­setten mit Spielen von Bra­si­lien und Deutsch­land, mit denen wir zwei Tage in einem Raum ver­bracht und alles Auf­fäl­lige auf einer großen schwarzen Tafel notiert haben. Mit DVDs gelangt man heute natür­lich schneller an die ent­schei­denden Stellen. Die Vor­be­rei­tung ist viel ein­fa­cher geworden.

Worauf schaut man vor allem?
Das größte Pro­blem für jeden Schieds­richter ist das Über­ra­schungs­mo­ment. Je besser man vor­be­reitet ist, desto geringer wird aber die Gefahr, über­rascht zu werden. Wenn man den modernen Fuß­ball mit dem der sieb­ziger Jahre ver­gleicht, denkt man, der Fern­seher muss defekt sein, weil das Spiel so langsam ist. Die Spieler konnten damals in Ruhe den Ball annehmen, sich umschauen und ent­scheiden. Heute müssen sie schon vorher wissen, was sie machen werden. Das gilt auch für den Schieds­richter, sonst ist er immer zu spät dran oder zu weit weg.

Wie hilft die Vor­be­rei­tung, recht­zeitig am rich­tigen Ort zu sein?
Ein Spiel ist abhängig von den tak­ti­schen Sys­temen der Mann­schaften. Das 4 – 4‑2-System etwa sorgt für einen grund­le­gend anderen Spiel­fluss als ein 4−2−3−1. Wenn ich aber weiß, wie die Mann­schaften spielen, bin ich dadurch in der rich­tigen Posi­tion. Oder glauben Sie, dass es das Gleiche ist, wenn ein Linksfuß auf Links­außen spielt oder wenn dort ein Rechtsfuß spielt?

Nein, der Rechtsfuß zieht eher in die Mitte, wie Ribery bei Bayern, ein Linksfuß geht eher nach Außen und ver­sucht zu flanken.
Genau, aber wenn ich das nicht weiß, werde ich über­rascht.

Im Grunde betreiben Sie also eine beson­dere Form der Spiel­ana­lyse?
Ja, wir schauen auch in die Sta­tis­tiken. Beim Con­fe­de­ra­tions Cup im letzten Jahr hat das US-Team in fünf Spielen 1800 Pässe gespielt, Spa­nien dop­pelt so viele. Das liegt daran, dass Spa­nien ein Tiki Taka mit kurzen Pässen bevor­zugt und die USA meist direkt die Stürmer sucht. Wenn einem das als Schieds­richter nicht klar ist, wartet man auf einen kurzen Pass, wo der Ball aber weit über das Feld nach vorne geschlagen wird und ist plötz­lich 50 Meter vom Spiel­ge­schehen ent­fernt. Oder nehmen Sie Stan­dard­si­tua­tionen: Im modernen Fuß­ball ver­wenden Trainer eine Menge Zeit darauf, ver­schie­dene Vari­anten ein­zu­üben. Also muss ich wissen, welche Spieler bei Eck­bällen und Frei­stößen die Blocks vor­be­reiten, um andere mög­lichst gut in Posi­tion zu bringen.

In der Europa League gab es in dieser Saison das Expe­ri­ment mit zwei soge­nannten »Addi­tional Assistant Refe­rees«, die vor allem das Tor und den Tor­raum beob­achten sollten. Hat sich das aus Ihrer Sicht bewährt?
Ich habe mit meh­reren Schieds­rich­tern gespro­chen, die bei dem Expe­ri­ment mit­ge­macht haben. Deren Ein­druck war, dass man eine bes­sere Kon­trolle über den Straf­raum hat, und das ist nun mal der wich­tigste Teil des Spiel­felds. Vor allem bei Ecken und Frei­stößen befinden sich manchmal sechs oder sieben Spie­ler­paare im Straf­raum, auf die sich kein Schieds­richter gleich­zeitig kon­zen­trieren kann. Ein wei­terer Assis­tent im Straf­raum mit einem anderen Blick­winkel auf das Geschehen hilft also, aller­dings muss sich der Schieds­richter umstellen.

Inwie­fern?
Nor­ma­ler­weise ist der Laufweg eines Schieds­rich­ters dia­gonal ange­legt. Mit den beiden neuen Schieds­rich­tern dreht man aber etwa 25 Meter vor dem Tor ab und bildet so ein Dreieck mit dem Lini­en­richter an der rechten Seite und dem neuen Schieds­rich­ter­as­sis­tenten zur Linken im Straf­raum (siehe Zeich­nung, d. Red.). Es ist aber gar nicht so ein­fach, einen Laufweg zu ändern, an den man sich über Jahre gewöhnt hat. Des­halb hatten wir für die ent­schei­denden Spiele in der Europa League nur Schieds­richter aus­ge­wählt, die damit bereits Erfah­rung gemacht haben.

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Neue Lauf­wege”, gezeichnet von Pier­luigi Col­lina (Kuli auf Papier): Der Schieds­richter dreht etwa 25 Meter vor dem Tor ab und bildet ein Dreieck mit dem Lini­en­richter und dem neuen Kol­legen im Straf­raum.

Von Schieds­rich­tern wird immer eine klare Linie ver­langt. Im WM-Finale von 2002 haben Sie zwei Gelbe Karten gezeigt, eine in der 6. und eine in der 9. Minute …
… und das war´s dann!

Waren diese Ver­war­nungen Folgen eines Plans, am Anfang direkt hart durch­zu­greifen?
Nein, so funk­tio­niert das nicht. Man kann nicht will­kür­lich eine Grenze setzen, ohne zu wissen, was pas­sieren wird. Aber eine der Gelben Karten habe ich gezeigt, weil der Spieler mit aus­ge­fah­renem Ellen­bogen in den Zwei­kampf gegangen war. Das wie­derum war eine Cha­rak­te­ristik dieses Spie­lers (gemeint ist der Bra­si­lianer Roque Junior, d. Red). Wenn man das als Schieds­richter weiß, kann man sich auf dem Spiel­feld so in Posi­tion bringen, dass man besser mit­be­kommt, wenn er seinen Ellen­bogen unfair ein­setzt.

Im Film »Refe­rees at Work«, einer Doku­men­ta­tion über die Schieds­richter bei der letzten Euro­pa­meis­ter­schaft, gibt es eine Szene, in der der Schieds­rich­ter­as­sis­tent auf dem Weg in die Halb­zeit­pause auf der Sta­di­on­lein­wand sieht, dass seine Abseits­ent­schei­dung falsch und damit der Treffer regel­widrig war. Wie geht man als Unpar­tei­ischer mit einer sol­chen Situa­tion um?
Manchmal rea­li­siert man in der Halb­zeit auch ohne Fern­seh­bild, dass man einen Fehler gemacht hat, weil jemand darauf auf­merksam macht oder die Spieler ent­spre­chend reagieren. Es ist dann wirk­lich sehr schwierig, den Fehler aus­zu­blenden. Ich würde eine Par­al­lele zu den Fuß­ball­spie­lern ziehen: Wenn ein Stürmer zu Beginn eines Spiels eine klare Tor­mög­lich­keit ver­gibt und ihr in Gedanken hin­ter­her­hängt, ist das Spiel für ihn gelaufen.

Der Schieds­richter könnte aber, anders als der Stürmer, seinen Fehler durch einen wei­teren zugunsten des benach­tei­ligten Teams aus­glei­chen. Mathe­ma­tisch gesehen bedeutet Minus mal Minus gleich Plus.
Aber die Arbeit eines Schieds­rich­ters hat nichts mit Mathe­matik zu tun, oder wenn über­haupt als Addi­tion: 1 + 1 = zwei Fehler. Als mensch­li­ches Wesen ver­sucht man immer, ein Gleich­ge­wicht her­zu­stellen. Wenn man etwas falsch macht, ver­sucht man, das zu kom­pen­sieren. Aber der Schieds­richter hat nur eine ein­zige Option: Ver­gessen, was man falsch gemacht hat und nach vorne schauen.

Wird es bei der Welt­meis­ter­schaft wäh­rend der Halb­zeit­pause in sol­chen Situa­tionen ein Feed­back für die Schieds­richter durch ihre Betreuer geben?
Nein, aber wenn ich Trainer oder Aus­bilder eines Schieds­rich­ters bin, warum sollte ich in der Halb­zeit nicht etwas sagen dürfen? Es gibt Mann­schaften, die eine arm­se­lige erste Halb­zeit spielen und ihre Leis­tung im zweiten Durch­gang dann her­um­reißen, weil der Trainer in der Halb­zeit­pause neue Anwei­sungen gibt, Ver­än­de­rungen vor­nimmt und viel­leicht die Spieler neu moti­viert. Ich bin inzwi­schen Mit­glied des UEFA-Schieds­richter-Komi­tees und schaue mir Spiele an. Wenn ich denke, dass die Leis­tung des Schieds­rich­ters besser sein könnte, wenn er etwas ver­än­dert, warum sollte ich dann bis zum Ende des Spiels warten, um diese Infor­ma­tionen wei­ter­zu­geben? Als Pro­vo­ka­tion würde ich sagen: Ich sehe nichts Fal­sches daran. Ich weiß aber nicht, ob so ein Vor­schlag bei den Ver­bänden akzep­tiert würde.

Es gibt immer wieder die Dis­kus­sion, dass bei Welt­meis­ter­schaften zu viele Schieds­richter pfeifen, die aus ihrer hei­mi­schen Liga nicht genug Erfah­rung mit­bringen.
Die Welt­meis­ter­schaft ist die Welt­meis­ter­schaft. Das gilt für Schieds­richter genauso wie für die Teams.


Es ist also kein Pro­blem, wenn jemand nur gele­gent­lich mit Welt­stars zu tun hat und plötz­lich über deren Wei­ter­kommen ent­scheidet?
Ich erin­nere mich an einen sehr guten Schieds­richter aus Marokko, der bei der Welt­meis­ter­schaft 1998 gepfiffen hat. Er hat das Finale geleitet und war ein sehr guter Unpar­tei­ischer. Ich bin mir sicher, dass die Schieds­richter, die für eine WM aus­ge­sucht werden, auf jeden Fall genü­gend Erfah­rung mit­bringen. Daher mache ich mir für Süd­afrika über­haupt keine Sorgen. Die Kol­legen, die über mehr Erfah­rung ver­fügen, leiten dann die Top-Spiele.


Wenn man sich die letzten großen Tur­niere anschaut, war es doch so, dass viele Schieds­richter nach fal­schen Ent­schei­dungen nicht nur kri­ti­siert wurden, son­dern auch öffent­lich ange­klagt. Ganz Polen war 2008 gegen ihren eng­li­schen Kol­legen Howard Webb, Urs Meier hat 2004 ähn­liche Erfah­rungen mit den eng­li­schen Fans machen müssen. Gibt es von Ihrer Seite einen Rat, wie man mit der­ar­tigen Situa­tionen umgehen kann?
Das Beste wäre natür­lich, die Leute, die für diese unver­hält­nis­mä­ßige Kritik ver­ant­wort­lich sind, zu ermahnen. Man sollte sie anhalten, sich zu mäßigen. Das wäre besser, als die Schieds­richter anzu­weisen, wie sie mit sol­chen Situa­tionen umzu­gehen haben. Für mich ist es inak­zep­tabel, dass durch eine Ent­schei­dung in einem Fuß­ball­spiel solche öffent­li­chen Anklagen ent­stehen. Jeder Schieds­richter ver­sucht, auf dem Platz sein Bestes zu geben. Aber er kann natür­lich, wie jeder andere auch, einen Fehler machen. Das ist doch ganz normal. Genauso gibt es Spieler, die in einem WM-Finale einen Elf­meter ver­schießen.

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Katrin Binner

Sogar sehr berühmte Spieler aus Ihrem Land.
Aber sagen wir dann, dass das kein guter Spieler ist? Nur aus der Tat­sache heraus, dass er den einen Elf­meter ver­schossen hat? So etwas pas­siert leider. Und genauso ist es bei den Schieds­rich­tern.

Kennen Sie Schieds­richter, die an Fehl­ent­schei­dungen zugrunde gegangen sind?
Ich finde es lustig, dass es immer, wenn ich mit Jour­na­listen über Schieds­richter spreche, so viel um Fehl­ent­schei­dungen geht. Klar gibt es die, aber viel mehr kor­rekte Ent­schei­dungen. Denkt positiv!

Wel­cher posi­tive Moment ist Ihnen denn vom WM-Finale 2002 in beson­derer Erin­ne­rung geblieben?
Wir mussten damals zwei­ein­halb Stunden vor dem Anpfiff im Sta­dion sein, weil danach der ganze Ver­kehr gestoppt wurde, als sich der japa­ni­sche Kaiser auf den Weg machte. So früh im Sta­dion zu sein, war sehr unge­wöhn­lich, also haben wir die erste drei­viertel Stunde in einem langen Kor­ridor im Inneren des Sta­dions gestanden, wo unsere Kabinen lagen, und mit­ein­ander gequatscht. Es war sehr lustig zu sehen, wie freund­lich die Spieler mit­ein­ander umgingen. Viele Spieler kannten sich unter­ein­ander, es war fast so, als wenn man auf einen Muffin im Café wartet und nicht auf das Finale einer Welt­meis­ter­schaft.