Pierluigi Collina, einer der besten Schiedsrichter unserer Zeit, wird heute 60 Jahre alt. Vor der WM 2010 führten wir mit ihm dieses Interview. Über Laufwege, VHS-Rekorder und das Finale ’02.
Pierluigi Collina, am 11. Juli um 20.30 Uhr wird einer Ihrer Schiedsrichterkollegen in Johannesburg das Endspiel der Weltmeisterschaft 2010 anpfeifen. Was können Sie ihm mit auf den Weg ins Finale geben?
Er sollte das Spiel vor allem genießen. Es ist eine Bestätigung für seine guten Leistungen und wird für ihn eine Erinnerung werden, die ein ganzes Leben bleibt, weil das Ereignis so beeindruckend ist.
Sie haben es selbst erlebt, als Sie das WM-Finale 2002 zwischen Brasilien und Deutschland geleitet haben. Wie sind Sie mit dem immensen Druck umgegangen, dass die ganze Welt auf Ihre Entscheidungen geschaut hat?
Ich habe immer versucht, jede Partie – und dazu gehört auch das Finale einer Weltmeisterschaft – als ein ganz normales Spiel zu betrachten. Das nimmt den Druck. Ich habe sogar mittags noch eine Stunde geschlafen.
Wirklich?
Ja, denn so bereitet man sich richtig auf das Spiel vor. Als Profi muss man sich auch dann normal verhalten, wenn man ein paar Stunden später an so einem Großereignis teilnimmt, sonst wird die eigene Leistung dadurch geschmälert, dass man Angst bekommt. Nervosität ist kein Problem, aber sie muss im gesunden Rahmen bleiben. Darüber hinaus muss sich der Schiedsrichter bewusstmachen, dass er der richtige Mann für das Spiel ist. Er wurde ausgewählt, weil es Vertrauen in seine Fähigkeiten gibt.
Die Vorbereitung der Schiedsrichter im Vorfeld von Weltmeisterschaften hat sich zuletzt von Grund auf geändert.
Absolut. Für die kommende WM ist es so: Seit drei Jahren läuft ein spezielles Programm. Am Anfang war eine große Anzahl von Schiedsrichtern dabei, von denen mit der Zeit immer mehr aussortiert wurden. Nun steht die endgültige Liste, und die Schiedsrichter, die es auf diese Liste geschafft haben, arbeiten seit nunmehr zweieinhalb Jahren mit demselben Ausbilder. Sie werden also wirklich sehr gut vorbereitet sein.
Das liegt auch daran, dass Sie im Laufe ihrer Karriere neue Standards gesetzt haben. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Spielvideos der Mannschaften anzuschauen, die Sie gepfiffen haben?
Man muss sich klarmachen, dass die Rolle des Schiedsrichters im Laufe der Zeit eine andere geworden ist. Haben Sie einmal Bilder des Schiedsrichters beim ersten WM-Finale 1930 in Uruguay gesehen? Er war angezogen wie ich jetzt: mit Jackett, Hemd und Krawatte. Er hat sich als Richter verstanden, der die Einhaltung der Regeln gewährleistet. Später wurden die Schiedsrichter zu Athleten und benutzten die gleiche Ausrüstung wie die Spieler.
Und heute bereiten sich Unparteiische auf ein Fußballspiel wie die Trainer vor?
Nein, sie bereiten es aus der Schiedsrichter-Perspektive vor.
Aber nutzen dabei ähnliche Hilfsmittel?
Ja, 2002 waren es noch VHS-Kassetten mit Spielen von Brasilien und Deutschland, mit denen wir zwei Tage in einem Raum verbracht und alles Auffällige auf einer großen schwarzen Tafel notiert haben. Mit DVDs gelangt man heute natürlich schneller an die entscheidenden Stellen. Die Vorbereitung ist viel einfacher geworden.
Worauf schaut man vor allem?
Das größte Problem für jeden Schiedsrichter ist das Überraschungsmoment. Je besser man vorbereitet ist, desto geringer wird aber die Gefahr, überrascht zu werden. Wenn man den modernen Fußball mit dem der siebziger Jahre vergleicht, denkt man, der Fernseher muss defekt sein, weil das Spiel so langsam ist. Die Spieler konnten damals in Ruhe den Ball annehmen, sich umschauen und entscheiden. Heute müssen sie schon vorher wissen, was sie machen werden. Das gilt auch für den Schiedsrichter, sonst ist er immer zu spät dran oder zu weit weg.
Wie hilft die Vorbereitung, rechtzeitig am richtigen Ort zu sein?
Ein Spiel ist abhängig von den taktischen Systemen der Mannschaften. Das 4 – 4‑2-System etwa sorgt für einen grundlegend anderen Spielfluss als ein 4−2−3−1. Wenn ich aber weiß, wie die Mannschaften spielen, bin ich dadurch in der richtigen Position. Oder glauben Sie, dass es das Gleiche ist, wenn ein Linksfuß auf Linksaußen spielt oder wenn dort ein Rechtsfuß spielt?
Nein, der Rechtsfuß zieht eher in die Mitte, wie Ribery bei Bayern, ein Linksfuß geht eher nach Außen und versucht zu flanken.
Genau, aber wenn ich das nicht weiß, werde ich überrascht.
Im Grunde betreiben Sie also eine besondere Form der Spielanalyse?
Ja, wir schauen auch in die Statistiken. Beim Confederations Cup im letzten Jahr hat das US-Team in fünf Spielen 1800 Pässe gespielt, Spanien doppelt so viele. Das liegt daran, dass Spanien ein Tiki Taka mit kurzen Pässen bevorzugt und die USA meist direkt die Stürmer sucht. Wenn einem das als Schiedsrichter nicht klar ist, wartet man auf einen kurzen Pass, wo der Ball aber weit über das Feld nach vorne geschlagen wird und ist plötzlich 50 Meter vom Spielgeschehen entfernt. Oder nehmen Sie Standardsituationen: Im modernen Fußball verwenden Trainer eine Menge Zeit darauf, verschiedene Varianten einzuüben. Also muss ich wissen, welche Spieler bei Eckbällen und Freistößen die Blocks vorbereiten, um andere möglichst gut in Position zu bringen.