Über 100.000 im Zentralstadion beim Spiel gegen Bordeaux! Und das war nur ein Höhepunkt eines Laufs, der für Lok Leipzig 1987 erst im Europapokalfinale endete.
Nicht alle Fußballgeschichten beginnen auf dem Fußballplatz, aber die wenigsten beginnen auf dem Klo. Diese hier schon. Und bis heute lässt sich trefflich darüber streiten, ob die misslichen Umstände den größten Erfolg des Leipziger Fußballs fast verhindert oder überhaupt erst möglich gemacht haben.
„Eigentlich war das eine Situation, in der man null Erfolg haben kann“, glaubt René Müller, seinerzeit Torwart und einer der wichtigsten Leistungsträger beim 1. FC Lokomotive Leipzig. „Die Sache hat jedenfalls alles ad absurdum geführt, was wir uns bis dahin erarbeitet hatten“, sagt Trainer Hans-Ulrich „Uli“ Thomale, und Heiko Scholz, damals 21 Jahre alt und in seiner ersten Saison auf der großen Bühne unterwegs, meint achselzuckend: „Dass ausgerechnet dieses Jahr das erfolgreichste in der Geschichte von Lok werden würde, mag unerklärlich sein. Aber so ist das manchmal im Leben, oder?“
Was aber ist passiert? In die Saison 1986/87 startet Lok Leipzig wieder mal mit großen Ambitionen. Das Team gehört zu den Großen im DDR-Fußball der Achtziger, ist im Jahr zuvor Vizemeister hinter dem ewigen BFC Dynamo geworden und hat den FDGB-Pokal gewonnen, weshalb es im Europapokal der Pokalsieger antreten darf. Die Saisonvorgaben werden von Trainer Thomale und Klubchef Peter Gießner in einem Strategiepapier festgelegt, in dem es unter anderem heißt: „Der 1. FC Lokomotive Leipzig stellt sich das Ziel, in diesem Europacupwettbewerb das Halbfinale zu erreichen.“
Eine Reise zum großen Bruder
Das klingt allemal schneidig, schließlich hat Lok erst einmal eine solche Vorschlussrunde erreicht, und das war 1974. Überhaupt liegt der letzte größere internationale Erfolg eines DDR-Klubs schon eine Weile zurück: 1981 ist Carl Zeiss Jena erst im Endspiel des Pokalsiegerwettbewerbs an Dinamo Tiflis gescheitert. Seitdem ist für die Vereine aus Ostdeutschland spätestens im Viertelfinale Feierabend gewesen.
Bevor aber nun Lok Leipzig einen neuen Anlauf nehmen kann, steht erst eine Reise zum großen Bruder an. Außer den Nationalspielern Müller, Zötzsche, Baum, Kreer und Liebers, die sich mit der DDR-Nationalelf im Trainingslager in Wien auf die anstehende EM-Qualifikation vorbereiten, fliegt der komplette Kader am 22. Juli 1986 in die Sowjetunion, um dort zu einer Reihe von Freundschaftsspielen anzutreten.
Die Sache endet in einem Desaster: Nicht nur, dass der Trip chaotisch verläuft, mit ewig langen Busfahrten, kaputten Duschen und kakerlakenverseuchten Hotels, spätestens auf der Rückreise rumpelt es allen aus der Delegation gehörig im Magen.
„Besser als gerührt zu sein, ist sich rühren“
„Schuld war meiner Meinung nach ein eingeschweißter Verpflegungsbeutel“, sagt Heiko Scholz. „Der hat schon von innen getropft.“ Letztlich stellt sich heraus, dass sich die Spieler von Lok Leipzig die Ruhr eingefangen haben, was zur Folge hat, dass die komplette Mannschaft in einem Leipziger Krankenhaus in Quarantäne wandert. Ab diesem Zeitpunkt kann von einer geordneten Saisonvorbereitung nicht mehr die Rede sein.
Während die aus Österreich zurückgekehrten Nationalspieler mit der eigenen U21 trainieren, vertreiben sich die gut zwanzig Spitalinsassen, aufgeteilt auf ganze zwei Zimmer, die Zeit mit Kartenspielen. Als es den Spielern allmählich besser geht, improvisiert Uli Thomale ein Fitnessprogramm im Krankenzimmer. „Mein Leitspruch war immer: Besser als gerührt zu sein, ist sich rühren.“
Bis die letzten Patienten entlassen werden, dauert es allerdings sechs Wochen, sogar das erste Oberligaspiel gegen Union Berlin wird verlegt. Ohne Begründung übrigens, denn von der Infektion im Bruderland darf die Öffentlichkeit nichts erfahren.