In der Gruppenphase der Champions-League-Saison 1994/95 hatte es der FC Bayern München mit Paris St. Germain zu tun. Für die Stierschenkler um Lothar Matthäus ein überaus unangenehmer Gegner. Denn PSG hatte Le Guen und Ricardo in seinen Reihen, die Strategen, und auch Valdo und Rai, die im Mittelfeld virtuos ein brasilianisches Kombinationsspiel aufzogen. Oft bezogen sie David Ginola mit ein, ebenso flink wie gefönt, und ließen die Bayern staunen. Aber es wäre alles nichts gewesen ohne den König – King George, George Weah.
Etwa in der Mitte der gegnerischen Hälfte bekommt der King den Ball. Noch im Trab nimmt er ihn an. Für einen Moment steht er seinem Gegenspieler wie bei einem Duell gegenüber. Dann beugt er seinen Oberkörper nach vorn, winkelt den Kopf wie eine Ramme ab. Für jeden spürbar, setzt er seine Beine unter Spannung, sammelt Energie und ist in sich bald wie ein Katapult. Der arme Jorginho, Schupp, Wouters oder wer auch immer versucht, den Weg zum Tor abzuschirmen! Sie alle sind chancenlos, als Weah sich jetzt selbst abschießt. Mit einem unsichtbaren Schwung des Fußgelenks legt er den Ball an ihnen vorbei und hat sie mit nur drei gewaltigen Schritten hinter sich gelassen. Verblüffend offen ist nun der Raum vor dem Sechzehner. Weah durchmisst ihn, den Kopf noch immer abgewinkelt, mit der Grazie eines rennenden Raubtiers. Parallel zur Linie zieht er nach innen, der verzweifelte Jorginho stürzt sich ihm entgegen. Umsonst: Weah lässt ihn ins Leere fliegen. Und da tut ich eine Lücke auf, man sieht Kahns malmenden Kiefer. Aus dem Fluss der Bewegung heraus schwingt Weah jetzt das rechte Bein nach hinten und schießt so plötzlich und so hart, dass der Torwart nur noch schauen kann. Der Ball schlägt ins Netz, und Weah dreht ab, seinen Kopf noch immer abgewinkelt.
Von Paris nach Mailand
Es war das Tor zum 1:0‑Sieg der Pariser in München. Und es war eines der Tore, wie sie George Weah viele schoss: Mit der Macht einer Katastrophe, zwangsläufig und schrecklich schön. Und immer hielt er dabei den Kopf so seltsam abgewinkelt, wie eine Kugel gleichsam durchschlug er die Reihen. Achtmal traf er in neun Spielen dieser Champions-League-Saison und wurde im selben Jahr zum Fußballer des Jahres in Europa, Afrika und weltweit gewählt.
Sein Tor gegen den FC Bayern sahen die Bosse des AC Milan noch am selben Abend im Flieger aus Salzburg, wo ihre Mannschaft ein Auswärtsspiel bestritten hatte. Sie waren so beeindruckt, dass sie das Band immer wieder zurückspulten, um zu begreifen, wie er es gemacht hatte. Deshalb war es keine Überraschung, dass Weah sich im folgenden Jahr dem AC anschloss, um sein von Verletzungen geplagtes Idol Marco van Basten zu ersetzen.
Und sofort machte er sich daran, die Herzen der Rossoneri-Fans zu erobern. Er erzielte eine ganze Reihe fantastischer Tore, am denkwürdigsten vielleicht jenes gegen Verona in einem der ersten Spiele für seinen neuen Verein, als er mit archaischer Eleganz zu einem Sololauf über den ganzen Platz ansetzte und zuletzt auch den gegnerischen Torhüter überwand. Mit dem AC gewann er zwei italienische Meisterschaften. 1998 erkor man ihn gar zum afrikanischen Spieler des Jahrhunderts.
Natürlich war er auch in seinem Heimatland Liberia herausragend. Als Mittelstürmer und Kapitän führte er die Nationalmannschaft bei vielen Afrikameisterschaften und WM-Qualifikationsturnieren an. Doch es fehlten dem Team Spieler, die auch nur annähernd die Klasse Weahs gehabt hätten. Die, die da waren, konnten die Freiräume, die entstanden, weil er vom Gegner in Doppel- oder sogar Dreifachdeckung genommen wurde, nicht nutzten. So erreichte Liberia weder hier noch da Zählbares. George Weah, neben Romario, Stoichkov und Cantona der wohl beste Stürmer seiner Zeit, hat nie an einer Weltmeisterschaft teilgenommen.
Im Sinkflug
Der schleichende Verlust seiner Athletik und Kraft schmälerte die letzten Jahre seiner Karriere. 2000 verließ er Mailand und ging zum FC Chelsea. Dort kam er an Jimmy Floyd Hasselbaink schon nicht mehr vorbei. Nach einem schnellen Wechsel zu Manchester City und nur einem halben Jahr in England floh er zu Olympique Marseille. Zuletzt spielte er für Al Jazeera in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Trotz des langen Sinkflugs blieb Weahs Ruhm daheim in Liberia ungebrochen. Dort hatte er sich seit Mitte der 90er Jahre für humanitäre Belange engagiert. Nicht wenige hielten ihn für den Heilsbringer in dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land. 2004 erklärte er, für die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Trotz seiner Unerfahrenheit in der Politik wurden ihm gute Chancen eingeräumt, er unterlag jedoch in der Stichwahl Ellen Johnson-Sirleaf. In der Niederlage fiel Weah aus der Rolle, als er sich im Dezember 2005 entgegen dem offiziellen Wahlergebnis zum Präsidenten ausrief und damit in Monrovia Unruhen auslöste.
Abseits des Platzes wird Weah zusehends zu einem Ritter von trauriger Gestalt. Aber als Fußballer werden wir ihn als King George in Erinnerung behalten, der Abwehrreihen durchschlug und Tore schoss, die noch immer ihresgleichen suchen.