Vor 30 Jahren wechselte Steffen Baumgart vom DDR-Ligisten Dynamo Schwerin in die ostfriesische Provinz zur SpVg Aurich. Was wie ein sportlicher Rückschritt anmutete, war das Sprungbrett zu einer veritablen Profi-Karriere. Erinnerungen eines „Ossis” in Ossiland.
Steffen Baumgart, im Sommer 1991 wechselten Sie vom damaligen DDR-Ligisten Dynamo Schwerin zur SpVg Aurich in die viertklassige Verbandsliga nach Ostfriesland. Wie kam’s?
Eine Abordnung aus Aurich kam zu unserem Spiel gegen die BSG Rotation Berlin. Sie wollten eigentlich meinen Teamkollegen Steffen Benthin beobachten, aber offenbar bin ich ihnen in dem Spiel positiv gefallen. Nach Abpfiff kamen Rüdiger Lange, der damalige Trainer der Spielvereinigung, und seine Begleiter auf mich zu und fragten, ob ich mir einen Wechsel vorstellen konnte.
Und Sie sagten gleich zu?
Natürlich bin ich mit meiner Freundin erst einmal dahin gefahren, habe mir die Stadt angeschaut und dann mit „Hinnie“ Taaken, dem damaligen Direktor der Auricher Volksbank und Sponsor des Vereins, über meine Vorstellungen verhandelt. Aber im Prinzip fand ich die Idee, in Aurich ein neues Leben anzufangen, reizvoll.
Aber Sie waren 19 Jahre alt, ein talentierter Fußballer. Ihre Karriere fing doch gerade erst an.
Mir kam es damals eher vor, als sei meine Fußballerkarriere zu Ende.
Wie meinen Sie das?
Versetzen Sie sich in meine Lage: Ich hatte schon mit 17 in der zweiten DDR-Liga gespielt, führte mit 18 Jahren vorübergehend die Torschützenliste an und spielte mit Dynamo Schwerin sogar im Europapokal der Pokalsieger. Aber nach der Wende wurde klar, dass die professionellen Voraussetzungen, unter denen wir zur DDR-Zeit trainiert und gespielt hatten, nicht mehr aufrechtzuerhalten waren. Mit dem Sozialismus brach auch das Sportsystem zusammen – und fehlte mir die Phantasie, wie ich den Weg von der DDR-Liga in die Bundesliga schaffen sollte.
Hielten Sie sich denn für gut genug?
Nein, es war jedenfalls kein Ziel, das ich für realistisch hielt. Die SpVg Aurich gab mir die Möglichkeit, zurück in den Fußball zu kommen, drei bis vier Mal die Woche unter guten Bedingungen zu trainieren, und nebenbei eine Ausbildung zu machen.
In Schwerin hatten Sie im Zivilberuf als Polizist gearbeitet.
Ich hatte ein Jahr bei der neugegründeten Bereitschaftspolizei mitgearbeitet und danach war mir klar: Als Polizist wollte ich auf keinen Fall meinen Lebensunterhalt bestreiten.
Welche Faktoren waren für Sie bei den Verhandlungen mit Hinrich Taaken in der Volksbank und damit für Ihren Wechsel nach Ostfriesland entscheidend?
Reich wurden von den Spielern, die damals aus der ehemaligen DDR nach Aurich kamen, keiner durch den Fußball. Ich konnte im „Autohaus am Deich” in Norddeich eine Umschulung zum KfZ-Mechaniker machen, wo auch meine damalige Freundin einen Job bekam. Der Verein stellte mir eine Wohnung und ich erhielt ich einen fahrbaren Untersatz.
„Wir kamen in ein neues Land, es gab keine Vergleichsmöglichkeiten”
Als Sie im Sommer 1991 nach Aurich kamen, fingen insgesamt elf Spieler aus der ehemaligen DDR bei der Spielvereinigung an. War das mit ein Grund, dass Ihnen der Wechsel so leicht fiel? Immerhin liegen zwischen Aurich und Schwerin knapp 400 Kilometer.
Nein. Natürlich kannte ich Michael Schulz vom Namen her, der lange in der Oberliga für den BFC Dynamo gespielt hatte. Auch ein paar Jungs aus Frankfurt/Oder kannte ich dem Namen nach, aber persönlich habe ich alle erst in Aurich kennengelernt.
Was war in Ostfriesland ganz anders in der DDR?
Alles!
Das heißt?
Die DDR war zusammengebrochen, wir kamen in ein neues Land, es gab keine Vergleichsmöglichkeiten. Das Einzige, was in Ostfriesland genauso wie in Schwerin funktionierte, war der Fußball. Und der hat dafür gesorgt, dass ich mich auf Anhieb in der Mannschaft und auch in der Stadt zuhause fühlte.
Mit rustikalem Charme und einer atemberaubenden Offensivtaktik befreit Steffen Baumgart den 1. FC Köln aus seiner ewigen Lethargie. Und auch für den Trainer endet in der Domstadt eine langjährige Durststrecke.
Einige von Ihren damaligen Mitspielern sind bis heute in Aurich geblieben.
Aurich gab uns die Chance, ein neues Leben aufzubauen. Wir kamen aus dem Sozialismus in den Kapitalismus, das war für uns alle prägend. Wir mussten in kurzer Zeit sehr viel neu lernen, etwa wie es mit der Krankenkasse und den Behörden lief. Viele Kleinigkeiten, die heute normal erscheinen. Aber da haben sich die Auricher sehr entgegenkommend gezeigt, vielleicht auch, weil wir „Ossis“ ebenfalls sehr zugänglich waren.
Ostfriesen gelten gemeinhin eher als maulfaul gegenüber Fremden.
Kann ich nicht bestätigen. Ich erinnere mich zum Beispiel an das Rentnerehepaar Götz, die waren Fans der Spielvereinigung. Sie luden uns öfter zu sich zum Essen ein und standen uns mit Rat und Tat zur Seite.
Hätten auch Sie sich vorstellen können, in Aurich heimisch zu werden?
Auf jeden Fall. Wenn ich nicht 1994 über Umwege zu Hansa Rostock gekommen wäre, würde ich vielleicht noch immer in Aurich leben, so wie meine damaligen Mitspieler Matthias Kämpfert, der in Rhauderfehn als Steuerberater arbeitet, Torsten Peplow, der sich als Autoverkäufer eine Existenz aufgebaut hat, oder Michael Schulz, der heute bei einer Versicherung in Aurich tätig ist.