„Van the man“, „die Torfabrik“ oder einfach nur „Ruud“: Dem Niederländer Rutgerus Johannes Martinus van Nistelrooij hat man während seiner nunmehr 15 Jahre währenden Karriere schon viele Spitznamen verpasst. Wie auch immer man den 32-Jährigen nennen will, unbestreitbar bleibt die Tatsache, dass Ruud van Nistelrooy einer besten und torgefährlichsten Stürmer des vergangenen Jahrzehnts war und ist. 262 Tore (Pokalwettbewerbe nicht mitgerechnet) für seine Vereine, und 33 Treffer im Nationalteam sprechen eine deutliche Sprache. Jetzt hat sich der Stürmer schwer am Knie verletzt und wird vermutlich neun Monate ausfallen. Es bleibt die Frage: Kann Ruud van Nistelrooy danach noch einmal angreifen?
„Im Fußball-Lexikon müsste unter dem Begriff Strafraumspieler ein Bild von ihm stehen“, fordert England-Korrespondent Raphael Honigstein, der für verschiedene deutsche Zeitungen (u.a. Süddeutsche, Tagesspiegel) von den Entwicklungen in der Premier League berichtet. Fünf Jahre spielte van Nistelrooy für Manchester United, schoss sagenhafte 150 Tore in allen Wettbewerben und tatsächlich nur ein einziges außerhalb des Sechzehners. Während sich mit den Rooneys, Christiano Ronaldos und Robinhos die neue Generation der Mittelfeld-Stürmer etablierte, pfeilschnelle Explosiv-Angreifer, die erst bei überfallartigen Kontern und Mittelfeldüberbrückungen ihre ganze Qualitäten ausspielen, blieb sich van Nistelrooy seiner Linie treu. Ein klassischer Mittelstürmer, von Flanken und Steilpässen im höchsten Grade abhängig. Sein Betätigungsfeld lässt sich zu 80% auf den Bereich knapp 25 Meter vor dem Tor einschränken.
Knochenharte Verteidiger wanden sich wie quengelnde Kinder
Ein Wellenbrecher sei er für die kommenden neuen Spielsysteme, bemängeln seine Kritiker, doch „Van the Man“ hatte stets die beste aller Antworten für einen Stürmer parat: Er traf das Tor. Und zwar in so beängstigender Regelmäßigkeit, dass sich die Öffentlichkeit nur noch mit der Ausflucht helfen konnte, van Nistelrooy sei kein Fußballer aus Fleisch und Blut, sondern eine Tor-Fabrik, eine Tor-Maschine. Knochenharte Verteidiger wanden sich wie quengelnde Kinder, wenn sie den hoch gewachsenen Offensivmann bewachen sollten. Der ist nicht nur mit dem berühmten Torriecher gesegnet, sondern verfügt zusätzlich über eine breite Palette an mehr oder weniger unerlaubten Tricks und Kniffen.
Seine ersten Gehversuche im Profifußball machte der 1976 in südholländischen Oss geborene van Nistelrooy in der Saison 1993/94 für den niederländischen Zweitligisten FC Den Bosch. Als Mittelfeldspieler hinter den Spitzen. Eine Grundausbildung in Sachen Technik, Taktik und Übersicht, die er in sein späteres Spiel als Sturmpflock integrieren konnte. Der auf den ersten Blick so klobig wirkende Angreifer agiert mit beeindruckender Eleganz und Spielkunst, beidfüßig ausgebildet sind auch seine kurzraumöffnenden Pässe sehenswert. Vier Jahre blieb van Nistelrooy in der Zweitklassigkeit, ehe ihn Foppe de Haan zum FC Heerenveen transferierte. De Haan stellte seinen jungen Neuzugang fortan in die Spitze – eine gelungene Systemumstellung, in 30 Ligaspielen traf der Jüngling stolze 13mal und weckte 1998 die Begehrlichkeiten vom PSV Eindhoven. Der hatte zwei Jahre zuvor Jahrhundertstürmer Ronaldo ziehen lassen müssen, doch der 22-jährige van Nistelrooy sorgte dafür, dass die Künste des Brasilianers beim PSV schnell vergessen wurden. 31 Tore in 34 Spielen machten den Nachwuchsstürmer innerhalb einer Saison zum hoffnungsvollsten niederländischen Sturmtalent seit Marco van Basten.
Manchester United wollte den Angreifer verpflichten, doch dem riss das Kreuzband, United zog die Anfrage zurück. Nach monatelanger Pause schien es ungewiss, ob van Nistelrooy an seine phantastischen Leistungen anknüpfen können würde. Er konnte. In nur 23 Spielen schoss er 29 Tore, das erneute Angebot aus Manchester ließ nicht lange auf sich warten – mit einer fast schon gerd-müllerschen Torbilanz (62 Treffer in 67 Ligaspielen) verließ der inzwischen zum Nationalspieler (Debüt am 18. November 1998 gegen Deutschland) aufgestiegene van Nistelrooy den PSV Richtung Premier League.
28,5 Milionen Euro ließen sich die Briten den niederländischen Import kosten, dessen wertvolle Beine verrichteten auch in der rasanten Tempoliga ihre Arbeit. Van Nistelrooy erzielte 23 Treffer in seiner ersten Saison und stellte einen viel beachteten Rekord auf, als er in acht aufeinanderfolgenden Spielen immer traf. Zehnmal netzte der Vollblutstürmer in der Champions League ein, United hatte sich mit van Nistelrooy eine personifizierte Torgarantie im eigenen Spiel patentieren lassen. Van Nistelrooys Torabschlüsse suchten Ihresgleichen, niemand versenkte die Bälle mit einer ähnlichen Präzision und Kaltblütigkeit. „Wie ein Bluthund“ jage er den Bällen hinterher, um sie ins Tor zu lenken, befand die französische Sportzeitung L’equipe im November 2003. Mit gesenkten Kopf und vorgestreckter Nase scheine van Nistelrooy jeden seiner Treffer auf seine Gültigkeit überprüfen zu wollen. „Ich will eben sicher gehen, dass der Ball auch im Tor ist“, bestätigte der Stürmer, der zusätzlich eine liebenswürdige Macke preisgab. „Wenn ich den Ball im Tor versenke, muss ich das Geräusch hören, wenn der Ball ins Netz rauscht. Tchouuuuuu! Ich liebe dieses Geräusch. Früher hat man mich damit quälen können, auf Tore zu spielen, die kein Netz hatten.“
Van Nistelrooy wird auf der Insel zu einem der besten Fußballer der Welt. Seine Tore machen den Klub aus Manchester noch erfolgreicher, als er es ohnehin schon ist. Seine Klasse beweist der Instinktfußballer auch international: in der Champions League trifft er nach Belieben, aktuell rangiert er hinter Teamkollege Raul (56) und dem Ukrainer Schewtschenko (54) auf Platz drei der ewigen Bestenliste. Allerdings: für seine 53 Tore benötigte er nur 69 Spiele, das entspricht einer Torquote von 0,77 Treffern pro Spiel. Besser waren nur Alfredo di Stefano (0,84) und – wer sonst? – Gerd Müller (1,00).
Kritik erntet der Niederländer für seine divenhaften Launen. Mal verlässt er aus Ärger über eine Nichtnominierung für die Startaufstellung vorzeitig das Stadion, mal gerät er wortgewaltig mit den Platzhirschen der Konkurrenz aus London oder Liverpool aneinander. Vor dem EM-Vorrundenspiel 2004 gegen Deutschland wird van Nistelrooy mit den Worten zitiert: „Hier geht’s nicht nur um bisherige Fußball-Duelle, sondern auch um geschichtliche Hintergründe. Vor allem um das, was vor 60 Jahren passiert ist.“ Der ungeschickten Historisierung lässt der Angreifer das späte 1:1 gegen Deutschland folgen, nach der Vorrunde ist für ungeliebten großen Nachbarn Schluss. Den Nahe der deutschen Grenze aufgewachsenen van Nistelrooy wird es gefreut haben.
Die Saison 2005/06 wird seine Letzte beim englischen Traditionsverein. Van Nistelrooy hat sich mit dem allmächtigen Alex Ferguson überworfen. England-Experte Honigstein hat die Gründe für Fergusons Unmut in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung aufgearbeitet: „Alles begann im Februar an der Anfield Road in Liverpool: Manchester United liegt kurz vor Schluss mit 0:1 in Rückstand. Ein letzter Steilpass findet van Nistelrooy nicht, er setzt nicht nach, er dreht ab. An der Linie geht Ferguson vor Wut in die Luft. 85 Jahre hat United im Pokal nicht gegen Liverpool verloren. Jetzt ist man ausgeschieden. Sir Alex verzeiht mangelnden Einsatz nicht. Die kleine, an sich unbedeutende Szene von Van Nistelrooy bleibt ihm in Gedächtnis. Das erzählt er später einem befreundeten Journalisten.“
„Geh doch zu deinem Papa!“
Als der Niederländer dann auch den seiner Meinung nach zu selbstverliebten Jungstar Christiano Ronaldo im Training schroff zurechtweisen will und fordert: „Geh doch zu deinem Papa!“, setzt ihn Ferguson auf die Abschussliste. Van Nistelrooy hatte Ronaldos Landsmann Carlos Queiroz (Fergusons Assistenztrainer) gemeint, der sich Ronaldo verstärkt angenommen hatte. Der junge Dribbelkünstler bekam van Nistelrooys Aussage freilich in den falschen Hals: Nur wenige Wochen zuvor war Ronaldos leiblicher Vater gestorben. Van Nistelrooy, der für United sagenhafte 150 Treffer erzielt hatte, musste gehen.
Real Madrid sicherte sich die Dienste des ausgemusterten Profis für verhältnismäßig lächerliche 15 Millionen Euro, im Gefüge der zerfallenden „Galacticos“ tut der Stürmer das, was er am besten kann: Seine 25 Treffer machen ihn zum Torschützenkönig der spanischen Eliteklasse und Real zu Meister. 07/08 reichten 24 Spiele für 16 Saisontreffer, unter dem neuen Trainer Bernd Schuster blieb der routinierte Angreifer eine der wenigen Konstanten. In sechs Spielen der laufenden Spielzeit traf van Nistelrooy viermal, der Bluthund hat scheinbar noch lange nicht genug.
Wären da nicht die Nachteile des Alters: Im Champions League-Spiel gegen Juventus Turin (0:2) verletzte sich der Torjäger schwer, bei einer Untersuchung diagnostizierten die Ärzte neben einer Verletzung im rechten Außenmeniskus auch einen Blessur des inneren Seitenbandes sowie diverse Knorpelschäden. Das Gelenk ist im Laufe ungezählter Zweikämpfe aufgerieben und abgenutzt. Der US-amerikanische Knie-Papst Dr. Richard Steadman hat sich in Colorado der Verletzungen angenommen.
Die Saison ist für van Nistelrooy beendet. Womöglich ist sein Fehlen das aktuell größte Problem für Real und den heftig kritisierten Trainer Schuster. Bleibt die Frage, ob er jemals wieder so erfolgreich angreifen kann, wenn er im kommenden Spätsommer mit dann 33 Jahren gegen den Ball treten darf. Die Torfabrik ist bis dahin auf jeden Fall erst einmal still gelegt.