Der chilenische Fußballer Carlos Caszely rebellierte gegen das menschenverachtenden Regime des Diktators Augusto Pinochet. Hier erinnert er sich an den Putsch von 1973, ein absurdes Fußballspiel – und seinen Affront gegen den Staatschef.
Viele tun nicht, was sie tun müssten. Aus Angst. Ich hatte auch Angst. Aber mein Glaube an die Werte der Demokratie war stärker. Deshalb habe ich getan, was ich tun musste.
Wir hatten eine wunderbare Atmosphäre im Land. Es herrschte ein Geist der Freundschaft. Liebe. Frieden. Bis zum Putsch am 11. September 1973. Dann war alles vorbei.
Ich hörte im Radio, dass Kampfflugzeuge den Präsidentenpalast bombardierten. Wo?, dachte ich. Hier? In Santiago? Warum sollten sie das tun? Die Regierung von Salvador Allende war frei gewählt, er war im Volk überaus beliebt, auch das Militär war loyal. Warum also sollte es nun putschen? Wie ist das möglich? Wir hatten doch alle an die Demokratie geglaubt! Ich war erschüttert, den Tränen nah.
Wenn ich heute im Nationalstadion bin, vermischt sich in meinem Bewusstsein noch immer die Zeit vor dem Putsch mit der Zeit danach. Die Erinnerungen an all das Schöne, das wir vor 1973 hier erlebten – und an all das Schreckliche, das danach kam. Es wurde zu einem Konzentrationslager umfunktioniert! In den Kabinen wurden Oppositionelle gefoltert und ermordet! Und als die Narben der Gefangenen noch längst nicht verheilt waren, spielten wir wieder Fußball in diesem Stadion.
Ein Spiel wird zur Farce
Es war eine Partie, die sich in vielerlei Hinsicht in die absolut deprimierende Stimmung jener Tage fügte: das Rückspiel der Qualifikation für die WM 1974 gegen die Sowjetunion. In Moskau hatten wir ein Unentschieden geholt, 0:0. Doch in der Nacht vor dem Spiel, am 20. November 1973, erfuhren wir, dass die Russen nicht antreten würden. Mehr noch: Sie waren erst gar nicht nach Chile gereist, aus Protest gegen den Austragungsort und die Gräuel, die dort stattgefunden hatten.
Ich selbst habe nie Zweifel daran gelassen, dass ich gegen jede Art der Diktatur war und immer noch bin, egal ob von rechts oder links. Doch ehrlich gesagt: Zum damaligen Zeitpunkt hielten meine Mannschaftskollegen und ich nichts von der Vermischung von Fußball und Politik. Wir glaubten auch eher an eine Ausrede der Russen und dachten, sie hätten Angst, nach unserem guten Hinspielergebnis die Teilnahme an der WM zu verspielen. So war schnell klar, dass weder wir noch die FIFA einwilligen würden, den Austragungsort zu wechseln. Es blieb also bei der ursprünglichen Ansetzung am 21. November.
Welch eine bizarre Situation am nächsten Tag! Mir wurde klar, dass sich Politik und Fußball doch nicht so leicht voneinander trennen ließen. Das ganze Stadion war voll mit Soldaten, einige von ihnen eskortierten uns sogar auf den Platz. Und dann standen wir auf dem Rasen: allein, ohne Gegner. Elf Chilenen in diesem riesigen Stadion. Wir kamen uns aber nicht nur auf dem Platz ziemlich alleine vor, auch die Ränge waren so gut wie leer. Das Nationalstadion fasste damals an die 100 000 Zuschauer, an diesem Tag waren es höchstens 15 000 – plus elf Männer auf dem Rasen.
Das war das Absurdeste, was ich je erlebt habe! Ich wäre am liebsten sofort wieder gegangen, doch der österreichische Schiedsrichter Erich Linemayr wies uns darauf hin, dass die Partie angepfiffen werden müsste, um die Qualifikation sicherzustellen. Wir gegen niemanden! Unsere drei Stürmer schoben sich den Ball ein paar Mal hin und her, zum Schluss schoss Francisco Valdés ihn zum 1:0 ein. Der Schiedsrichter musste die Partie nach dem Tor direkt abpfeifen, es war ja niemand da, der den Wiederanstoß hätte ausführen können. Wir fuhren also zur WM. Doch nicht als freies Land, sondern als Unrechtsstaat.
„Sein Gesichtsausdruck! So dreckig, so mies.“
Einige Tage später wurden wir zu einem Empfang zitiert: Diktator Augusto Pinochet wollte uns persönlich gratulieren. Ich erinnere mich genau: Ich hörte Schritte, und plötzlich öffneten sich die Türen und dieser Typ kam herein. Sein Gesichtsausdruck! So dreckig, so mies. Er sah aus wie der Teufel. Diesem Mörder konnte ich die Hand nicht geben. Im Leben nicht. Als er mir seine schließlich entgegenstreckte, blickte ich ihm nur in die Augen und sagte: „Sie wissen doch vom Leid der Gefangenen!“ Und er? Er steckte sich die Finger in die Ohren und sagte: „Reden Sie nicht davon! Ich will davon nichts hören!“ Es fühlte sich an, als würden tausend Stunden vergehen. Wahrscheinlich waren es nur zehn Sekunden. Dann ging er weiter.
Ich hatte diese Pflicht als Mensch. Ich spürte in meinem Rücken das ganze chilenische Volk, das unter Pinochet und seinem Terror litt. Ich bin kein gewalttätiger Mensch, ich kann mich nicht auf das Niveau von Mördern herablassen. Aber ich musste wenigstens sagen, was ich denke.
Ein halbes Jahr später, ich spielte mittlerweile in Spanien und wollte meine freien Tage daheim verbringen, holte meine Familie mich vom Flughafen ab. Doch es war anders als sonst. „Ist etwas passiert?“, fragte ich. Da begann meine Schwester zu schluchzen. Und mein Vater, der liebste Mensch der Welt, machte ein trauriges Gesicht. „Wir erzählen es dir zu Hause, Carlito, nicht hier“, sagte er. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen, was ich dann erfahren musste, noch immer. „Ich wurde festgenommen“, sagte meine Mutter in ihrem Zimmer zu mir. „Festgenommen und gefoltert.“ – „Mama, hör auf!“, sagte ich. „Mit so etwas scherzt man nicht!“ Dann drehte sie sich zum Licht und zeigte mir die Brandwunden an ihrer Brust. Sie nahm mich in ihre Arme, und ich weinte wie ein Kind.
Sie wollten mich bestrafen. Und sie trafen mich am Schlimmsten, indem sie meiner Mutter Schmerzen zufügten. Weil ich Pinochet den Handschlag verweigert hatte. Weil ich Nein zur Diktatur gesagt hatte. Aber sie brachen mich nicht. Denn ich hatte getan, was ich tun musste.