Ragnar Klavan ist beim FC Liverpool zu einer Stammkraft im Kampf um die Meisterschaft geworden. Das liegt auch an der ganz besonderen Form seines Kopfes.
„Ich glaube Dir nicht, ich brauche einen Beweis“, schrieb Ragnar Klavan im Sommer des vergangenen Jahres als Antwort auf eine SMS. Ein Mann namens Jürgen Klopp hatte sich bei ihm gemeldet und gefragt, ob sich der Este in Diensten des FC Augsburg einen Wechsel an die Anfield Road vorstellen könne. Klavan vermutete eine Falle und Klopp schickte umgehend den eingeforderten Beleg — ein Selfie.
„Ich konnte es nicht glauben. Es war seit 22 Jahren mein Traum, in der Premier League zu spielen. Und dann auch noch Liverpool“, so Klavan, der mit seiner Überraschung nicht allein blieb.
Von wegen vierte Wahl
Aber gut, dachten sich die Fans der Reds, dann kommt da eben für überschaubare fünf Millionen Euro ein Spieler, den Klopp aus der Bundesliga kennt. Er wird sich schon was dabei gedacht haben. Und überhaupt: Klavan ist ja höchstens ein Backup.
Ein Eindruck, dem sein neuer Trainer sofort widersprach: „Ich habe gehört, dass er nur unsere vierte Wahl ist. Wartet ab und schaut ihn Euch an! Und dann sagt mir nochmal, dass er so lange draußen bleiben sollte, bis sich jemand verletzt.“
Dazu hatten die Fans inzwischen mehr als genug Gelegenheit. Gleich im ersten Saisonspiel bei Arsenal London stand Klavan in der Startelf. Die Reds siegten im Emirates zwar mit 4:3, doch es war ein vogelwildes Spiel, bei dem auch der Este nicht immer den sichersten Eindruck machte.
Alles, was Liverpool braucht
Am folgenden Spieltag setzte es prompt eine Niederlage in Burnley, Klavan stand erneut in der Startelf. In der Folge setzte Jürgen Klopp zumeist auf das Innenverteidiger-Paar Dejan Lovren und Joel Matip. Ehe der Ex-Augsburger durch die Verletzung des Ex-Schalkers erneut in die Anfangsformation gespült wurde. Und seinen Job fortan mit Bravour erledigte.
Bald regnete es Lobeshymnen. Klavan sei ein „Verteidiger-Typ, Marke 80er-Jahre. Einer, der keinen Quatsch macht“, schrieb das Liverpool Echo. Ex-Spieler Steve Nicol, 343 Mal im Trikot der Reds unterwegs, schlug in dieselbe Kerbe: „Klavan ist kein Franz Beckenbauer. Er ist einer dieser Quadratschädel, der keine Fehler macht. Er erledigt einfach seinen Job. Und das ist alles, was Liverpool in der Defensive braucht.“
Für Klavan selbst fühlt sich der Wechsel nach Liverpool noch immer an wie ein „Lottogewinn“. „Ich war nie der talentierteste Spieler. Ich musste um alles kämpfen, es mit harter Arbeit schaffen.“ Kein Problem für einen, der sagt: „Ich habe mir selbst geschworen, dass ich bis zur letzten Trainingseinheit, bis zum letzten Spiel meiner Karriere alles gebe, was ich habe. Ich will später nichts bereuen müssen.“
Dem bedachten Klavan darf man das getrost abnehmen. Nur die Sache mit dem mangelnden Talent ist eine ziemliche Untertreibung. Der Este verfügt durchaus über ein feines Füßchen, nicht umsonst begann der Sohn eines Ex-Nationalspielers seine Karriere als Mittelfeldspieler. Vorbild: Zinedine Zidane.
Der estnische David Beckham
An dessen Denkmal wird er mit seinen mittlerweile 31 Jahren wohl nicht mehr kratzen. Dafür wird er zumindest in seiner Heimat verehrt wie kein Zweiter. Kein Wunder: Klavan steht bei 116 Länderspielen, wurde holländischer Meister mit AZ Alkmaar und war der erste Este, der jemals in einer Partie der Champions-League-Gruppenphase auflief.
Zu allem Überfluss firmierte Klavan eine Zeit lang als „estnischer David Beckham“, der Liaison mit einer Sängerin der seinerzeit populären Girl-Band Vanilla Ninja (!) sei Dank.
Da war es nur logisch, dass das Staatsfernsehen des baltischen Staates sich sofort nach Liverpool aufmachte, als der Wechsel des berühmtesten Fußball-Spieler des Landes fix war.
Alles, was Jürgen Klopp liebt
Neben einigen interessanten Einblicken in die Empfehlungen des Klubs (Er solle sich aus Sicherheitsgründen ein Haus am Ende einer Sackgasse suchen), liefert besonders eine Passage des Beitrags Einblick in Klavans Mentalität: „Der Makler hat uns Häuser mit sechs bis sieben Schlafzimmern angeboten, aber das erschien mir nicht vernünftig. Warum sollte man in einem Haus leben, von dem man die Hälfte des Platzes nie benutzt?“
Es ist, wie das Liverpool Echo schreibt: „Klavan erfüllt einfach alles, was Jürgen Klopp liebt. Er ist talentiert aber bescheiden. Und ein Arbeitstier vor dem Herrn.“ Nur eines könnte die Harmonie zwischen dem Trainer und seinem Glücksgriff noch trüben: Bei der Wahl zum Fifa-Welttrainer des Jahres hat der Kapitän der estnischen Nationalmannschaft für Claudio Ranieri, Fernando Santos und Zinedine Zidane gestimmt. Da half dann auch kein Selfie mehr.