Marcello Lippi hat seine Trainerkarriere offiziell beendet. In dieser hat der Italiener nicht nur alle großen Titel gewonnen, sondern auch die heutige Trainergeneration inspiriert.
Marcello Lippi war vorbereit und feierte erst, als seine Brille in Sicherheit war. Kurz vor dem entscheidenden Elfmeter von Fabio Grosso im Finale der Weltmeisterschaft 2006 fiel dem italienischen Nationaltrainer eine Szene ein, die sich zehn Jahre zuvor ganz ähnlich abgespielt hatte. Damals war Lippi mit Juventus im Champions League Finale 1996 gestanden und hatte gegen Ajax Amsterdam zum ersten Mal den Titel in der Königsklasse geholt. Nach dem Schlusspfiff hatte er mit den Spielern gejubelt und danach seine Brille zerstört auf dem Boden des Olympiastadions in Rom wiedergefunden. Beim WM-Finale in Berlin hatte er dazugelernt.
Es gibt nicht viele Trainer auf der Welt, die die Möglichkeit haben, bei einem so einzigartigen Titelgewinn auf die Erfahrungen von früheren, ebenfalls außergewöhnlichen Siegen zurückzugreifen. Marcello Lippi, der am Donnerstag sein Karriereende als Trainer verkündete, hatte sie. Kaum einer kommt an die Trophäensammlung heran, die der in der Toskana geborene Italiener in seiner Laufbahn angesammelt hat. Meister, Pokalsieger, Champions-League-Sieger und Weltmeister, wer kann das schon von sich behaupten?
Fast ungewöhnlich wirkt es da, dass Lippi keiner der Trainer ist, deren Name untrennbar mit einem Spielstil verbunden sind. Anders als Sacchis Milan oder Cruyffs Barcelona versuchte sich Lippis Juventus nicht an einer Revolution des Fußballs. Die Stärke des Teams war die taktische Variabilität, die es möglich machte, aus allen Spielern auf dem Feld das Beste herauszuholen. Wie beim Wechsel von Zinedine Zidane im Jahr 1996, für den Marcello Lippi das Team so ausrichtete, dass dieser sich auf seiner Position im offensiven Mittelfeld entfalten konnte. Pragmatismus, das war das eigentliche Markenzeichen des Trainers Lippi.
Ganz besonders funktionierte das bei Juventus. 1994 war der Trainer zur „alten Dame“, zu dieser Zeit im Schatten des AC Milan, gewechselt. Im Jahr zuvor hatte er beim SSC Neapel gearbeitet, einem Verein, der gedanklich noch in den Zeiten von Diego Maradona schwebte, aber finanziell längst am Boden lag. Sechs Monate lang sollen die Spieler kein Gehalt bekommen haben. Lippi gelang es dennoch, mit dem Team um Jungstar Fabio Cannavaro, Daniel Fonseca und Paolo di Canio den sechsten Platz in der Liga zu erreichen und sich für den UEFA-Cup zu qualifizieren. Und das große Juventus auf sich aufmerksam zu machen.
Schon in seiner ersten Saison 1994/95 holte Lippi den Scudetto zurück nach Turin, drei Meisterschaftstitel wurden es insgesamt in seiner ersten Amtszeit. Und das in einer Ära, in der die Serie A unbestritten die stärkste Liga Europas war und Juventus sich neben den üblichen Rivalen Milan und Inter auch gegen finanzstarke Vereine wie Parma oder Lazio behaupten musste. Fast zwangsläufig war man als bester Verein Italiens auch in Europa vorne dabei. Drei Jahre hintereinander standen Lippi und Juventus im Finale der Champions League.
Wie gut Juve und Lippi zu einander passten, merkte man, als der Trainer im Jahr 1999 zum Rivalen Inter ging. Kaum ein Jahr hielt Lippi es dort aus, bis er am 1. Spieltag seiner zweiten Saison mit Inter wieder ging und im Anschluss nochmal zur „alten Dame“ zurückkehrte. Dort machte er weiter, wo er aufgehört hatte: Zweimal in Folge holte Juve den Scudetto und war 2003 zum vierten Mal innerhalb von acht Jahren im Champions-League-Finale.
Es war der letzte große Erfolg mit den Turinern. Ein Jahr später, nach einer enttäuschenden Saison 2003/04, verabschiedete sich Marcello Lippi und wurde Nationaltrainer in einer nicht so einfachen Zeit für Italien. Wahrscheinlich war es auch Lippis pragmatische Art, die 2006 den Ausschlag dafür gab, dass die italienische Nationalmannschaft so unbeirrt durch das WM-Turnier schritt. Trotz der Tatsache, dass die stolze Fußballnation nur kurz vor Turnierbeginn von einem Manipulationsskandal durcheinander gerüttelt worden war, an dem fast alle Vereine der Auswahlspieler beteiligt waren.
In den 2010er Jahren wurde es still um Lippi – zumindest hier in Europa. Der Italiener heuerte in China bei Guangzhou Evergrande an und wurde dort mit einem überlieferten Jahresgehalt von zehn Millionen Euro zu einem der bestbezahltesten Trainer der Welt. Was ihn nicht dazu bewog, die letzten Jahre im Trainergeschäft ruhiger angehen zu lassen. Drei Meisterschaften, ein weiterer Sieg in der asiatischen Champions League – der Trophäenschrank musste auch gegen Ende seiner Trainerkarriere regelmäßig erweitert werden.
Wie erfolgreich Lippis Trainerstil war, zeigt sich auch an seinen Nachfolgern. In Juves Mittelfeld zogen Zinedine Zidane, Antonio Conte oder Didier Deschamps die Fäden. Sie alle sind heute selbst Trainer und haben ihren ehemaligen Übungsleiter in Sachen Erfolge teilweise sogar übertroffen. Didier Deschamps, von 1994 bis 1999 Spieler bei Juve, gewann mit der französischen Nationalmannschaft 2018 die Weltmeisterschaft, Zinedine Zidane schaffte es als erster Trainer nach Marcello Lippi, drei Mal in Folge das Finale der Champions League zu erreichen (und gewann im Gegensatz zu seinem Mentor alle drei Partien). Antonio Conte wurde nicht nur italienischer und englischer Meister, sondern trainierte – wie Marcello Lippi – die italienische Nationalmannschaft. Und mit Andrea Pirlo bei Juve, Gennaro Gattuso bei Neapel und Filipo Inzaghi, der in dieser Saison mit Benevento Calcio in die Serie A aufstieg, hat die italienische Liga noch weitere Trainer, die zuvor unter Lippi gespielt und gelernt haben.
Marcello Lippi wird die Arbeit seiner Schützlinge weiter genau beobachten – am Mittwochabend kommentierte er etwa die Champions-League-Partie von Contes Inter gegen Borussia Mönchengladbach. Ein vollkommener Abschied ist es also nicht. „Vielleicht werde ich noch in anderen Rollen nützlich sein, wir werden sehen“, ließ er bei der Verkündung seines Rücktritts am Donnerstag eine Tür offen, dass er dem Fußball noch in anderer Funktion erhalten bleibt. Auf der Tribüne ist seine Brille beim Jubeln dann bestimmt geschützter als am Spielfeldrand.