Keine Zeit für große Gefühle. Der Tippschein wandert in den Papierkorb und mit ihm die kurzlebige Hoffnung auf die goldene Eingebung. Im Wettbüro paart sich das Flair der Börse – flackernde Zahlen auf vielen Monitoren – mit der Volkstümlichkeit einer Eckkneipe. Rentner ziehen die Cordhose zurecht, während am Nebentisch junge Türken Statistiken wälzen. In diesen Räumen wird die Zahl 26, die auf dem WM-Quotenschein hinter der Elfenbeinküste steht, zur ganz großen Verheißung.
Während einer WM müsste hier eigentlich das El Dorado für Fußballwetter liegen. Bernd Hobiger, Besitzer des Berliner Wettbüros „Goldesel“, aber schüttelt den Kopf: „Bei den großen Turnieren gibt es keinen großen Umsatz.“ Denn die Stammkundschaft favorisiert Schiebewetten, Wetten also, bei denen der jeweilige Gewinn der einen Wette den Einsatz der nächsten bestimmt. Auf diese Weise machte erst kürzlich in Berlin ein Tipper aus zehn Euro Einsatz 20000 Euro. Doch die Formel, Außenseitersieg Bundesliga plus Unentschieden in der dritten slowenischen Liga plus x, funktioniert bei einer WM nicht. Bei großen Turnieren gibt es weniger Spiele pro Tag, also weniger mögliche Tipps.
„Wir hoffen, dass uns wenigstens die Eventwetter bei einer WM erhalten bleiben“, meint Hobiger. Wenn sie eben nicht das Geld im Internet setzen. Allein bwin.de bietet zum Turnier 30000 Wetten an, doppelt so viele wie 2006. Bei englischen Internetanbietern wird gar darauf gewettet, welche Spielerfrau zuerst im TV auftaucht oder welche Frisur David Beckham trägt. England ist das Land der unbegrenzten Wettmöglichkeiten: So setzte John Morrey 1998 glatt 200 Pfund darauf, dass sein damals zwölfjähriger Neffe bei der WM 2006 spielen werde. Morrey gewann 50000 Pfund – sein Neffe war niemand Geringerer als Wayne Rooney.
„Richtiges WM-Feeling herrscht eher draußen“
Für Rudolf Holinka, Chefbuchmacher beim österreichischen Wettanbieter „Admiral Sportwetten“, unvorstellbar: „Solche Wetten führen wir nicht.“ Seit 20 Jahren ist er im Geschäft, einen Großteil davon verbrachte er am Wettschalter. „Richtiges WM-Feeling herrscht eher draußen. Hier ist keine Fanmeile.“ Meistens bleibt es bei der Stammkundschaft, die zwischen Tresenschnack und Pils die Wettscheine anhäuft. Das geht soweit, dass die WM-Goldgräber weggeschickt werden. Reinhard Sorgenicht von der „Wettoase“ in Berlin ließ drei Männer abblitzen, die vor dem Spiel 2006 zwischen Deutschland und Costa Rica 6000 Euro auf die Klinsmann-Elf setzen wollten. „Diese hatte ich vorher noch nie gesehen. Die Chancen standen gut, dass sie 18000 Euro machen und man sie nie wiedersieht. Das konnte ich gegenüber der Anbieterfirma nicht rechtfertigen“, erklärt Sorgenicht.
Das heimische Wettbüro bleibt ein Mikrokosmos im großen Wettgeschäft. Dort, wo der Buchmacher wie der Kneipenwirt auch mal zum Seelenklempner werden kann. Mit Menschen, für die Marius Müller-Westernhagen die Textzeilen schrieb: „Was soll ich machen? Ich bin zum Wetten geboren.“ Die Wettgemeinde macht das Büro zu einem Kumulationspunkt von Diskussionen, Gerüchten und Vorahnungen.
So wie bei der WM 1994, als im letzten Vorrundenspiel der Gruppe B Kamerun und Russland aufeinandertrafen. In den Büros verfestigte sich das Gerücht von einer Schiebung, wonach Kamerun die Russen besiegen werde. Flugs wurden Unsummen auf Kamerun gesetzt. Alles heiße Luft, Russland siegte mit 6:1. Tippscheine wanderten wieder in den Papierkorb, am Ende gewinnt halt doch immer die Bank.